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Stress im Krankenhaus: Die Arbeitssituation wird prekärer. Supervision wäre für alle Pflegeberufe nötig.

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Psychologe Jürgen Glaser weiß, dass fehlende Anerkennung zu Depressionen führt.

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Die Arbeitstage werden länger, die Pausen kürzer, und auch am Wochenende sind immer mehr E-Mails zu beantworten. Seit Monaten schläft er schon schlecht, ist gereizt, verstimmt und kann sich kaum konzentrieren. Gegenüber den Kollegen ist er zynisch geworden, in der Familie gibt es erste Reibereien. Sogar körperlich zeigen sich Folgen: Er ist ständig verkühlt, fühlt sich schwach, kommt schnell außer Puste, und der hässliche Schwimmreifen um die Hüfte wird auch immer größer.

Eine Beschreibung, die auf immer mehr Berufstätige zutreffen dürfte: Krankheitstage aufgrund von Burnoutsyndrom sind laut jüngsten Untersuchungen aus Deutschland in den vergangenen acht Jahren um das Achtzehnfache gestiegen. Der volkswirtschaftliche Schaden ist enorm. Doch nicht alle Patienten, die den Stempel Burnout vom Arzt erhalten, leiden genau darunter, sagt Jürgen Glaser, Psychologe an der Universität Innsbruck. "In vielen Fällen handelt es sich um eine psychische Erschöpfung durch chronischen Stress." Sie sei freilich mindestens genauso ernst zu nehmen wie das von Medien oft beschriebene Ausgebranntsein. Glaser: "Burnout wird medial zur Modedepression hochstilisiert, über die man lieber spricht als über eine Depression." Eine Ansicht, die auch Detlef Dietrich vom Ameos-Klinikum Hildesheim teilt: "Betroffenen fällt es oft leichter, von Burnout zu sprechen. Tatsächlich haben wahrscheinlich etwa 80 Prozent der Patienten mit einer Burnoutdiagnose eigentlich Depressionen mit einem zeitlichen Bezug zu ausgeprägten Belastungen."

Unfaire Behandlung

Psychischer Stress im Beruf und im Privatleben kann vielfältige Gründe haben und sich verschiedenartig zeigen: In der Whitehall-II-Studie, die seit Mitte der 1980er-Jahre vom britischen Epidemiologen Michael Marmot und seinem Team am University College von London durchgeführt wird, zeigt sich nicht nur, dass bei Stress das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 23 Prozent steigt, sondern auch, wie sich unfaire Behandlung im Job auf die Gesundheit auswirkt.

Ein Ungleichgewicht zwischen Anstrengungen einerseits und Anerkennung (unter anderem durch Vorgesetzte) andererseits führt zu einem zwei bis dreifach größeren Risiko für Herz-Kreislauf-Neuerkrankungen. Depressionen treten bei einer solchen Gratifikationskrise sogar bis zu fünfmal häufiger auf, als wenn die Wertschätzung stimmt - "die sich nicht zwingend materiell äußern muss", sagt Glaser. Auch das Risiko für Muskel-Skelett-Erkrankungen steige bei unfairer Behandlung von Angestellten, erzählt er. Und es wird geringer nach erfolgreichen Führungsseminaren. Glaser: "Hier wird das geflügelte Wort von der zu tragenden Last auf den Schultern zur Realität."

Auch Glaser untersucht gerade, inwiefern sich erlebter Stress nicht nur in Fragebögen niederschlägt. In einem Unternehmen, das nach der Übernahme durch einen amerikanischen Konzern umstrukturiert wird, herrscht allgemeine Sorge um den Arbeitsplatz. Die Forscher aus Innsbruck und von der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie in Ulm analysieren in ihrer Studie auch Spuren von Cortisol im Haar, einem von der Nebennierenrinde ausgeschütteten Stresshormon, das auch für Menschen ohne Belastungen wichtig für den Energiehaushalt des Körpers ist. Derzeit werden Führungskräfte darin geschult, besser auf die eigene Gesundheit und die ihrer Mitarbeiter zu achten und in Zeiten des betrieblichen Wandels das Unternehmen so zu führen, dass gesundheitliche Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt werden. Danach sollen die Haarproben wieder auf Cortisol-Spuren untersucht werden.

Glaser sagt, dass sich Unternehmensleitungen erst allmählich für Arbeitsstress und Burnout sensibilisieren lassen. Es gebe zwar seit 1994 in Österreich und seit 1996 in Deutschland ein Arbeitnehmer-Innenschutzgesetz, "anfangs waren aber mögliche psychische Belastungen nicht explizit erwähnt". Seit Anfang des Jahres ist nun eine Novelle in Kraft getreten, in der die Berücksichtigung von arbeitswissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen sogar verlangt wird. "Das bedeutet: regelmäßige Mitarbeiterbefragungen. Die gibt es zwar in vielen Unternehmen schon, aber oft ohne Konsequenzen. Bei Mitarbeitern stellt sich eine Befragungsmüdigkeit ein."

Der Hauptkritikpunkt des Psychologen: "Oft folgen auf Daten keine Taten." Das sei besonders in jener Berufsgruppe zu merken, in der das Burnoutsyndrom erstmals erforscht wurde: in den pflegenden Berufen. Trotz der mehrfach bestätigten Erkenntnisse werde die Situation für Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger prekärer.

Immer mehr Patienten müssen mit immer weniger Ressourcen behandelt werden. Nicht selten, sagt der Psychologe, bleibe das Zwischenmenschliche auf der Strecke. Glaser: "Das ökonomische Diktat sagt: Eigentlich müsste jedes vierte Krankenhaus geschlossen werden, um das Gesundheitssystem rentabel zu machen." Spitäler werden heute nicht selten wie Unternehmen geführt. "Und menschliche Zuwendung ist in der Leistungsbilanz nicht mehr erhalten."

Vor zehn Jahren noch blieben Patienten durchschnittlich bis zu zehn Tagen im Krankenhaus, heute sind es bei durchrationalisierten Abläufen und auch dank des medizinischen Fortschritts oft nur zwei bis drei Tage. Glaser: "In diesen kurz getakteten Kontakten können die Patienten nicht angemessen behandelt werden." Der Umgang mit Zeitdruck, mit Gefühlen wie Angst, Ärger oder Ekel müsse verstärkt in die Ausbildung der medizinischen Fachkräfte fließen.

Mehr Supervision

Der Psychologe wünscht sich auch mehr Supervision für Pflegekräfte und Ärzte, etwa nach dem Vorbild der Balint-Gruppen: Eine Gruppe von Beschäftigten trifft sich regelmäßig mit einem Psychotherapeuten, um besonders schwierige und betreuungsintensive Fälle zu besprechen.

Der Mensch scheint über genügende Alarmsysteme zu verfügen. Allein das intensive Nachdenken über Stress kann nach jüngsten Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie schon zu körperlichen Folgen führen und sich im Hormonhaushalt und im Immunsystem niederschlagen. Glaser: "Es ist wichtig, psychischen Stress frühzeitig ernst zu nehmen." (Peter Illetschko, DER STANDARD, 03.04.2013)