Selbstporträt aus dem Jahr 1912: Max Liebermann ließ seinem Unmut über Hitler am 30. Jänner 1933 freien Lauf.

Foto: Berlinische Galerie

Jahrzehntelang hieß es, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei. Aber auch in Deutschland pflegte man einen Mythos: Am 30. Jänner 1933 sei es zur "Machtergreifung" Hitlers gekommen. Tatsächlich ernannte der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg den Chef der stimmenstärksten Partei zum Kanzler. Indem man diesen Akt als "Machtergreifung" titulierte, so der Historiker Michael Wildt von der Berliner Humboldt-Universität, schob man die Verantwortung für die Ernennung weg.

Heute spricht man daher lieber von "Machtübernahme". Und dieser widmet man sich in Berlin mit einem vielfältigen Jahresprogramm: Mehr als 120 Projekte von Museen, Gedenkstätten und Initiativen, darunter etliche im öffentlichen Raum, setzen sich mit der Geschichte Berlins im Nationalsozialismus auseinander.

Eine inhaltliche Klammer will die Ausstellung "Zerstörte Vielfalt. Berlin 1933-1938" im Pei-Zubau des Deutschen Historischen Museums bilden. Ausgewählte Orte wie der Kurfürstendamm, das Brandenburger Tor, das Olympia-Stadion oder der Anhalter Bahnhof dienen dabei als Aufhänger, um Themen wie Machtinszenierung, Zensur oder Flucht "schlaglichtartig" zu beleuchten.

Die kunterbunte, didaktisch spannend aufbereitete Schau bietet auf 410 Quadratmetern in der Tat nur Schlaglichter. Denn der Nationalsozialismus lässt sich, dem Untertitel zum Trotz, seriös nicht innerhalb der Zeitspanne von der Machtübernahme 1933 bis zum Novemberpogrom 1938 erklären. Thematisiert werden müssen auch die Folgen, also Holocaust und Zweiter Weltkrieg beziehungsweise die wirtschaftliche und politische Situation der 1920er-Jahre. Man hat aber viele illustrierende Objekte und hochinteressante Dokumente zusammengetragen. Dass jeder wissen konnte, was blühen würde, beweist unter anderem ein comicartiges Flugblatt der SPD zur Reichstagswahl 1930: Die Hakenkreuzfahne der NS-"Diktatur" ist mit ordentlich Blut befleckt.

Verfemt, verfolgt, verboten.

Für viele Künstler und Architekten, die in der Weimarer Republik erfolgreich gewesen waren, bedeutete die Machtübernahme das jähe Ende ihrer Karriere: Sie mussten fliehen, gingen in die innere Emigration - oder wurden ermordet. Die Berlinische Galerie, 1975 gegründet, stellte aus ihrer Sammlung die Ausstellung "Verfemt. Verfolgt. Verboten. Kunst in Berlin 1933-1938" zusammen: Man erklärt anhand von etwa 40 Werken berührende Schicksale.

Einer der vorgestellten Künstler ist der 1847 in eine jüdische Kaufmannsfamilie geborene Max Liebermann, der ab 1920 die Preußische Akademie der Künste leitete. Als am 30. Jänner 1933 nach der Machtübernahme vor seinem Haus ein Fackelzug der "Nazis" vorbeimarschierte, kommentierte er dies mit dem vielzitierten Satz: "Ick kann jar nich so ville fressen, wie ick kotzen möchte."

In der Folge musste er alle seine Ämter niederlegen. Liebermann starb 1935, zwei Jahre später wurden seine Bilder aus der Berliner Nationalgalerie beschlagnahmt. Seine Frau nahm sich 1943, nachdem sie von der geplanten Deportation ins KZ Theresienstadt gehört hatte, das Leben.

Der Notar Georg Aronsohn war kurz zuvor, im Oktober 1942, nach Theresienstadt deportiert worden, wo er am 18. Jänner 1943 starb. Die NS-Schergen transportierten sein Hab und Gut ab, darunter das Gemälde "Nach der Feier" (1902) von Philipp Franck, der 1944 in Berlin starb. Es zeigt vier Totengräber beim Weißbier.

1976 wurde das Bild für die Berlinische Galerie erworben. In der NS-Zeit geraubte Kunst offen zu präsentieren wirkt ein wenig befremdlich: In Österreich würde das Gemälde wohl an die Erben von Georg Aronsohn restituiert werden. Die in die Schausammlung integrierte Ausstellung, die auch das NS-Kunstverständnis erklärt, ist aber hervorragend.

Zum Themenschwerpunkt "Zerstörte Vielfalt" hätte auch die "Retrospektive Margaret Bourke-White" im Martin-Gropius-Bau gepasst: Die unerschrockene US-Fotografin (1904-1971) war als Reporterin für die Zeitschrift "Life" an vielen zentralen Schauplätzen zugegen - etwa 1938 im Sudetenland, 1941 in Moskau, 1944 in der Normandie und 1945 bei der Befreiung des KZ Buchenwald. Die nüchternen Fotos ziehen unweigerlich in ihren Bann. (Thomas Trenkler aus Berlin, DER STANDARD, 2.4.2013)