Eduard Habsburg, "Lena in Waldersbach", Erzählung. € 15,- / 120 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2013

Cover: C.H.Beck

Sich in einem Buch verlieren: Das ist es, was die 17-jährige Lena offenbar tut. Das Buch, das sie umtreibt, ist ein kanonischer Text der deutschen Literatur, Georg Büchners Lenz, eine in ihrer Radikalität bis heute verstörende Bloßlegung einer abgrundtiefen menschlichen Malaise. Mit Rucksack, Wanderstiefeln und einer Reclam-Ausgabe von Büchners 1839 erschienener Erzählung begibt sich Lena an die Leidensorte des schizophrenen Dichters Jacob Michael Reinhold Lenz, um dort etwas zu suchen: Nur was?

Eduard Habsburg, Drehbuchschreiber, Autor und Theologe, der Lena auf den Weg geschickt hat, lässt den Leser vorerst im Unklaren, aus welchem Grund das Mädchen die Vogesen durchwandert. Klar ist aber, dass das tendenziell Idyllische dieser Unternehmung ständig durch Beunruhigendes, Unerklärtes, Unerklärliches durchkreuzt wird.

Die Stimmungen der Protagonistin schwanken zwischen Angst und Zuversicht, manchmal identifiziert sie sich mit den unheimlichen Anwandlungen des Lenz, wird von ihnen emotional mitgerissen, sie erlebt das wieder, was er zuvor erlebt hat, trifft Menschen, die er zuvor getroffen hat.

Dann wieder kommt sich Lena "ein wenig wie Schliemann in Troja vor", wie eine neugierige, der wissenschaftlichen Objektivität verpflichtete Forscherin, welche sich mit papierenen Kommentaren zu Büchners Text nicht zufriedengeben will und sich daher auf diese Expedition gemacht hat, um an Ort und Stelle nachzuschauen, was es mit den Schauplätzen von Lenzens Drama auf sich hat: "Es gab einfach Dinge, die konnte man nicht durch Lektüre feststellen. So wußte sie seit ihrem Weg vom Bahnhof Richtung Waldersbach durch das Steintal, am Tag ihrer Ankunft (...), dass es durchaus möglich war, dass Lenz kurz vor Waldersbach umgekehrt und ,wie ein Hirsch gen Fouday' zurückgesprungen war, wie Büchner schrieb."

Gründe der Flucht

Absencen, Trancen, das Hinter-Sich-Lassen der gewohnten Umgebung, wunderliche Wanderungen, Verwirrung über die eigene Identität: Dieses Symptombündel entspricht (schlag nach bei Wikipedia) in allen Einzelheiten der psychiatrischen Diagnose einer dissoziativen Fugue. Hinsichtlich der Ursachen der Störung ist hier kein Spoiler Alert nötig: Der Rezensent gibt weder die - kaum außergewöhnliche - Vorgeschichte von Lenas Trauma preis, noch legt er die Peripetien bloß, die dazu führen, dass Lena schließlich nicht "so hinlebt" wie Lenz, sondern zu guter Letzt "schwebt" und "dahinfliegt".

Büchners tragischen Lenz zum Ursprungstext für eine Hoffnungsgeschichte zu nehmen: Ist das kein Sakrileg, ist ein solch, "postmodern" gesagt, " intertextuelles" Kunststück erlaubt? Selbstverständlich ist es das (Büchner hat sich bekanntlich beim Verfassen des Lenz selbst auf viele fremde Texte gestützt). Man darf nur - wie Habsburg - weder einen Hehl daraus machen, aus welcher Quelle man schöpft, und man muss einen literarischen Eigenwert generieren, der nicht ausschließlich vom Vorbild, sondern neben ihm lebt.

In seinem Blog schreibt Habsburg, Ziel seines Buches sei es, die Leser zur Lektüre des Lenz und den übrigen Werken Büchners zu verlocken. Das ist bescheiden formuliert und erschöpft die Meriten seines Buches nicht. Lena in Waldersbach lehnt sich an Lenz an, steht aber gleichwohl auf zwei eigenen gesunden Beinen. Die Erzählung nimmt den Leser auf eine bis zum Schluss spannende literarische Reise, die aus einer kräftigen, unprätentiösen und dennoch sinnlichen Sprache lebt (schöne Schilderungen von Natur, heißem Schinken-Käse-Toast und vor allem Motorradfahrten).

Ein Zusatzkompliment gilt dem C.-H.-Beck-Verlag: Der Buchumschlag ist eine feine, selbstlose Hommage an die Bildungsinstitution des Reclambändchens, welches hoffentlich auch in Zeiten von Smartphone und iPad nicht so schnell verlorengehen wird. (Christoph Winder, Album, DER STANDARD, 30./31.3./1.4.2013)