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"Ich will meinen Unmund loswerden, aber ich ahne, die einzige Gefahr, die ihm droht, ist dass er sich heillos überfrisst. Mein Unmund ist ein Schwein, das grunzend im Futtertrog wühlt."

Foto: dpa/Peter Steffen

Ich habe ein Tier, das nennt sich Unmund. Der Unmund kommt von der Unmündigkeit, die wohl selbstverschuldet ist, betäubt und willenlos vollgefressen. Der Unmund nährt sich von Worten und wohnt im Schlaraffenland, während ich mich in meiner Art bedroht fühle.

Ich will meinen Unmund loswerden, aber ich ahne, die einzige Gefahr, die ihm droht, ist dass er sich heillos überfrisst. Mein Unmund ist ein Schwein, das grunzend im Futtertrog wühlt, und er ist in guter Gesellschaft. Mein Unmund ist in besserer Gesellschaft als ich, die ich keine Plakatwände mag, keine Gratiszeitungen und keine Infoscreens, die ich ständig damit beschäftigt bin, meinen Blick bei mir zu behalten. Mit welcher Gewalt muss ich ihn bezähmen, wenn ich auf die U-Bahn warte, um nicht auf den Bildschirm gegenüber zu starren, um nicht ein ebenso monströses wie schwachsinniges rotes Plüschtier namens Bruno in mich aufzunehmen, fehlerhafte und verstümmelte Nachrichten zur Ablenkung zwischen zwei Zügen.

Wie viel Anstrengung es braucht, um sich nicht der Infoscreen gewordenen Sinnlosigkeit hinzugeben! Ich schaue rundherum und stelle fest, niemand sieht mich. Die Aufmerksamkeit gilt Infoscreens, Mobiltelefonen und Gratiszeitungen, Tunnelblicke kreuzen durch die Erweiterung im U-Bahn-Schacht. Eine gewaltige Überraschung, wenn ich plötzlich einem Blick begegne, der mich wahrnimmt! Und mich frage, hat dieses Gegenüber auch einen Unmund, der Probleme macht?

Die Unmundhorde sammelt sich vor dem Futtertrog voll schöner, bunter Farben an der Schachtwand gegenüber. Man fragt sich, wann der Infoscreen das erste Opfer fordert, das magisch angezogen über die Kante taumelt, dem leuchtenden Bildschirm entgegen, der verkündet: Ihr Zug fährt ein. Mein Unmund liebt die öffentlichen Verkehrsmittel, und reisen wir gemeinsam in kleinere österreichische Hauptstädte, so ist er begeistert vom technischen Fortschritt, der auch dort mit Bildschirmen in O-Busse und Straßenbahnen Einzug hält.

Sportergebnisse, Wettervorhersagen, bis zur Unverständlichkeit gestutzte Nachrichtenmeldungen zwischen Bildern, solange es ablenkt, ist alles gut. Wenn ich versuche, mit meinem Unmund vernünftig zu reden, er lasse sich mit ärmlichen Sprachhülsen abspeisen, dann schmatzt mein Unmund und sagt: Egal, ich bin so herrlich satt. Und ich, flehentlich: Aber siehst du denn nicht, diese Infoscreen-Sprache ist Fastfood-Essen, die Sättigung hält nicht an, gleich bist du wieder heißhungrig, denn wenn du nicht beständig damit abgefüllt würdest, müsstest du kotzen und nüchtern werden!

Aber meinem Unmund ist egal, dass die Bildschirme uns die Augen verkleben und auch sonst alle Sinnesorgane, weil uns das, was zu sehen wäre, in einfachen Strichen hingemalt wird _ _ _ in BLOCKBUCHSTABEN und mit vielen Ausrufungszeichen, von denen die Menschen sich angerufen fühlen! in ihrem Innersten! das Gefühl! dass einem jemand auf die Schulter klopft! mit jedem Ausrufungszeichen! oder auch! in angenehm prickelnde Alarmstimmung versetzt werden!

Das Grausen gehört dazu, und die Zeichen der Götter sind Schlagzeilen und Ausrufezeichen und Ziffern, die uns elektrisieren und wachrütteln und einen kurzen Moment lang dankbar sein lassen für das kleine, hundige Leben, das wir aber in diesem Moment immer noch führen, im Gegensatz zu 59 anderen Opfern, die der Osterverkehr gefordert und bekommen hat. Wir sagen ein Stoßgebet und versichern uns der Wirklichkeit mit dem vertrauensvollen Blick zum Altar, dem Screen, wo es der Gott des Infotainment den Seinen in Bewusstlosigkeit gibt.

Unsere Marterln sind in der ganzen Stadt verteilt, kleine Häuschen voll Zeitschriften, Illustrierter und Magazine, und mein Unmund ist ein braver Gläubiger und will an jedem Marterl die Titelseiten kontemplieren. Er liest, dass die Frau selbst ist, und deshalb im Heft die zehn besten Sprüche, um IHN anzumachen. Da fühlt sich auch mein Unmund gleich angesprochen, der hat es gut, womit ich angesprochen werde, bezieht sich beinahe ausnahmslos auf IHN. 44 EROTIK KICKS.

Wir wollten wissen: Was macht Männer wirklich verrückt nach uns? Sie haben es uns verraten ... Die verheißungsvollen Pünktchen, die meine selbsternannten Print-Ansprechpartnerinnen so gerne setzen, mag auch mein Unmund gern, die prickeln so schön auf der Zunge, während man sich auf das nächste Bonbon freut ... Wir lieben jetzt: Anti-Aging-Marshmallows! ruft meine fröhliche Freundin, und mein Unmund ist bezaubert von ihr und erhofft sich einen guten Einfluss auf mich - weil wir alle eine sind, liebe ich wie alle meine Freundinnen diesen kleinen Partikel, der etwas gemeinsam hat mit den Pünktchen, weil er so vielversprechend ist, wie wir alle sein wollen: So! Mein Unmund frisst und kaut, er rülpst, stößt auf, schluckt und schlingt.

Mein Unmund ist am besten Weg zur Adipositas in dieser Überflusssprachgesellschaft, die mit ihrem konstanten Ausfluss in ihre Mitglieder einfließt und über den Unmund auch mich langsam beeinflusst, der Unmund immer fetter und ich sein verhärmtes Anhängsel. Völlernd und schlürfend und schlingernd zieht mein Unmund durch die Straßen und stopft alles in sich hinein, an jedem Zeitungsständer verrichtet er sein Geschäft der Nahrungsaufnahme, während ich nichts will, als von den das Auge stechenden Geilsverkündungen verschont zu bleiben. Es ist eine Zurichtung, mein Unmund, murmele ich und hebe den Blick zu einer Wand, wo ein nackter Frauenbauch mir tröstend mitteilt, eine seelische Erkrankung sei so normal wie eine Blinddarmentzündung.

Ist mein Unmund eine Krankheit, eine Seele oder ein Blinddarm? Kleingedruckt fügt der Frauenbauch bedauernd hinzu, eine solche lasse sich allerdings nicht durch einen kleinen operativen Eingriff entfernen. Aber einen Unmund könnte man vielleicht operativ entfernen?, frage ich hoffnungsfroh den Frauenbauch. Doch der Unmund reißt mich weiter wie ein groß gewordener Welpe, der als ausgewachsener Schweinehund sein willenloses Frauchen äußerln führt.

Mein Unmund ist ein Schwein, und immer zieht er mich hin zu den Blatthaufen, die gratis aufliegen in der ganzen Stadt. Die Blätter werden in Massen überall hingesetzt, damit ein jeder Bürger und seine Frau einen Blatthaufen nehmen kann und dann woanders wieder fallen lassen, und diese Blätter sind öffentliche Sinndreckhaufen! Aber niemand regt sich auf. Keiner sagt was.

Keiner von denen, die hinter Hundebesitzern stehen und "grauslich" sagen und schimpfen über die Trümmerl! Keiner, den die gratis Sinnsdreckhaufen stören? Warum nicht Sackerlspender für die Papiersinndreckhaufen? Warum nicht Sinndreckhaufen im öffentlichen Raum in entsprechende, magistral zur Verfügung gestellte Behälter verlagern? Warum nicht können die Bürger ihren Ordnungssinn den Sinndreckhaufen widmen?

Sich bücken, ein bisserl angeekelt ein Gratis-Sackerl über das Gratis-Blatterl streifen, unter dem Plastik verschwimmen die Buchstaberln, und wir schütteln die Handerln ein wenig hinten nach, und das Sinndreckhauferl verschwindet in einer öffentlichen Verbrennungsanstalt. Mein Unmunderl, weine ich, es kann so nicht weitergehen, du hast mir meine Sprache versaut, hast mich angefüllt mit deiner ganzen Sprache zum Kotzen, dauernd bin ich beschäftigt, mich von der Sprachscheiße zu reinigen, die du anschleppst. Vergiftet fühle ich mich und leidend, doch dann passiert das Unausweichliche: Mein Unmund hat bei unseren Gassigängen etwas Verdorbenes erwischt. Fäkalkeime haben meinen Unmund außer Gefecht gesetzt, es ist ein Skandal, und alles schreit entsetzt auf, dass Sprache so schädlich sein kann, dass Sprache gefährlich ist, das hat keiner gewusst, und es wurde auch nirgends vor den möglichen Folgen gewarnt! Ich aber, ich sitze still.

Und still und leis streunt mein Blick aus dem Fenster, bleibt auf leeren Hausfassaden ohne Leuchtreklamen ruhen, und ich erfreue mich an einem zaghaften Frühling, an einem Weltausschnitt, in dem einzeln nasse Büsche farbig glühen und daneben feuchte Mauerecken frieren, und vorsichtig und leise beschreib ich mir, was ich da seh. (Laura Freudenthaler, Album, DER STANDARD, 30./31.3./1.4.2013)