Renée Schroeder über ihre Zukunft: "Ich werde jetzt Kräuterhexe"...

Foto: STANDARD/Regine Hendrich

...und über Frausein: "Es gibt zwar heute viel mehr Möglichkeiten für Frauen, aber der Leistungsdruck ist so hoch wie nie."

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Die Biochemikerin und Forscherin Renée Schroeder bereitet sich auf ihr Leben als Bäuerin vor. Warum der Mensch kein Produkt der Schöpfung ist, sondern Zufall, und was sie selbst dereinst im Meer oder auf dem Berg tun möchte, erfragte Renate Graber.

STANDARD: Haben Sie Ihre Ausbildung zur Bäuerin schon absolviert?

Schroeder: Ja, ich bin geprüfte Bäuerin. Das war die Auflage der Grundverkehrskommission, dass ich einen Bauernhof in Salzburg kaufen durfte. Mein Sohn und ich gingen 16 Stunden pro Woche in Hollabrunn in die Schule.

STANDARD: Fühlt sich die Biochemikerin als Bäuerin anders?

Schroeder: Ja, ich sehe die Welt jetzt ganz anders. Weil mein Wissen hat sich mit dem, das ich dort erworben habe, kaum überlappt. Dort ging es um Pflanzen, Tierzucht, Maschinen. Ich habe mich mit dem Lebenszyklus von Weizen beschäftigt, mit Düngemitteln, Krankheiten und Medikamenten. Ich kenn mich jetzt bei Kühen aus und beim Kuhmagen. Sehr spannend. 

STANDARD: Sie werden in Ihrer Pension Kühe halten und Kukuruz anbauen statt die RNA zu erforschen?

Schroeder: Vor allem möchte ich alpine Heilkräuter züchten. Der Bauernhof liegt auf 1100 Metern Höhe und hat traumhafte, völlig verwahrloste Wiesen mit wilden Pflanzen. Schafgarben-, Johanniskrautöle und Alkoholessenzen habe ich schon gemacht. Ich werde jetzt also Kräuterhexe.

STANDARD: Ein Labor werden Sie dort oben auch einrichten?

Schroeder: Mein Labor heißt dort Kräuterküche, und es wird 60 Quadratmeter groß sein. Die Pflanzen müssen ja getrocknet werden, und ich werde destillieren, Extrakte machen, Öle, Säfte, Salben, Seifen, Tees.

STANDARD: Werden Ihnen Uni und Ihre Studenten nicht abgehen?

Schroeder: Ich werde bald 60. Die ersten dreißig Jahre habe ich gelernt, die zweiten dreißig Jahre nur gehackelt: Job, zwei Kinder, ich habe gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet. Zuerst wird man, dann arbeitet man, dann ist man. Ich bin jetzt. Und ich bin in einem Zustand, den ich extrem genieße, muss mir von niemandem mehr was sagen lassen, habe keinen Genierer mehr, keine Angst und einen Überblick über die Dinge. Ich mache, was mir wichtig erscheint.

STANDARD: Im Alter darf man sogar ein Narr werden?

Schroeder: (lacht) Ja, man darf ein Narr werden. Schauen Sie, ich habe Sandalen an, obwohl es fast noch Winter ist. Früher hätte ich gedacht, da halten mich alle für verrückt. Jetzt ist mir das egal.

STANDARD: Herrlich.

Schroeder: Ich gehöre aber auch zu jener Generation von Frauen, die es bisher am besten hatte. Ab 1968, ich war damals 15, wurde alles besser: Wir durften fast alles, aber die Erwartungshaltung an uns war fast Null. Heutzutage ist die Erwartungshaltung an Frauen enorm: Sie sollen Familie haben, Superkinder, Supermänner, super ausschauen und müssen drei Mal mehr leisten als die guten Männer – und dann haben sie immer noch nichts sicher. Es gibt zwar heute viel mehr Möglichkeiten für Frauen, aber der Leistungsdruck ist so hoch wie nie.

STANDARD: Sie hatten nie einen Karriereplan? Außer, dass Sie als Kind zum Mond fliegen wollten?

Schroeder: Genau. Als Juri Gagarin losflog, dachte ich als Achtjährige: Ins All fliegen, das ist das Beste. Ich hatte dann wirklich wenig Strategie in meinem Leben. Meine Karriere ist mir passiert.

STANDARD: Aber Kinder wollten Sie immer haben.

Schroeder: Absolut. Mit 30 wollte ich schwanger sein, mit 30 war ich schwanger.

STANDARD: Sie haben inzwischen ja einen eigenen Stern. Wurde Ihnen gewidmet, als Sie 2003 Wissenschafterin des Jahres wurden.

Schroeder: Ja, er liegt irgendwo am Hintern der Andromeda.

STANDARD: Als Atheistin und Wissenschafterin sagen Sie, die Natur sei eine Anhäufung von Zufällen. Wobei nicht Gott würfle, wie es Einstein gesagt hat, sondern die Natur.

Schroeder: Der Würfel in der Natur hat unendlich viele Seiten, und es wird ununterbrochen gewürfelt. Der Spielraum der Natur ist enorm groß. Es gibt sehr viele Ereignisse, von denen die meisten keine funktionelle Konsequenzen haben. Jene, die welche haben und die Evolution voranbringen, sind Zufallsereignisse, die man nicht voraussagen kann. Und wie definieren wir den Zufall? Wenn man das Gleiche nochmal macht, käme etwas anderes heraus.

STANDARD: Einmaligkeit lässt sich nicht wiederholen.

Schroeder: Sie ließe sich wiederholen, gäbe es genug Zeit und Möglichkeiten. Aber es gibt sie nicht.

STANDARD: Ist der Zufall nicht nur eine andere Art zu sagen, dass man sich etwas nicht erklären kann?

Schroeder: Nein. Nehmen Sie den genetischen Code: Da gibt es 20 Aminosäuren und 64 Möglichkeiten. Die Frage ist, ob es eine chemische Notwendigkeit dafür gibt, dass der genetische Code so ist wie er ist. Wir sagen, es gibt die nicht. Aber: Alle Organismen und Lebewesen auf unserem Planeten, die wir kennen, haben den gleichen genetischen Code. Das heißt: Er entstand durch Zufall, nicht durch chemische Notwendigkeit. Er ist eingefrorener Zufall. Wir könnten ihn ändern, aber dann ginge auch alles, was sich darauf entwickelt hat, alle Information, verloren.

STANDARD: Wir sind also alle Zufallsprodukte?

Schroeder: Wir sind natürlich ein Produkt des Zufalls. Auch Physiker sagen, dass etwas anderes als unser Universum entstanden wäre, wenn die Partikel, die beim Urknall entstanden sind, ein bisschen anders gewesen wären. Ich weiß nicht, warum Zufall so negativ besetzt ist und die Leute so stört.

STANDARD: Weil viele wollen, dass ein Gott der Schöpfer war.

Schroeder: Natürlich. Dass die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist, dass wir kein Produkt der Schöpfung sind, das ist eine kopernikanische Kränkung für religiöse Menschen. Freud ist ja auch eine Kränkung für sie: Dieses Ich und dieses Über-Ich - und das Unter-Ich. (lacht)

STANDARD: Warum werfen Sie denen Überheblichkeit vor?

Schroeder: Weil sie sich über die Dinge stellen und denken, sie seien mehr als sie sind. Wir Menschen glauben ja, dass uns der kulturelle Fortschritt zu etwas Besonderem macht. Dabei verlieren wir mit jedem Schritt, der unsere Überlebenschance erhöht, an physiologischer Fitness. Ohne unsere ganze Kultur würden wir kaum noch überleben.

STANDARD: Im Wald wäre es schwierig ...

Schroeder: (lacht) Früher konnte man sich noch orientieren, heute geht man mit dem GPS Wandern.

STANDARD: Physiker Heinz Oberhummer sagt, dass Menschen aus Sternenstaub sind. Mir gefällt diese Vorstellung. Ihnen auch?

Schroeder: Staub ist mir zu undefiniert, wir sind schon sehr gut organisierte Momente. Was ist Sein? Sein, das ist eine Annäherung, denn man ist nie, weil man sich immer verändert. Der Augenblick, in dem wir uns nicht verändern, ist so kurz, dass wir eigentlich nie sagen können: Wir sind. Wir werden, weil sich im Körper, in unseren Zellen immer etwas abspielt, sodass wir nie so sind wie vor einer Sekunde.

STANDARD: Beunruhigend.

Schroeder: Das ist neutral. Nur für Leute, die gern mehr Sicherheit haben, ist die Erkenntnis einer Wissensgesellschaft, wonach man nicht weiß, wohin es geht, beunruhigend. Und genau darauf baut der Erfolg vieler Religionen auf. Wenn die Kirche sagt: Das ist so, weil Gott es so haben will, dann ist das für viele beruhigend, sinngebend, tröstend. Religion gibt einem ein Weltbild, in dem man sich geborgen fühlt: Da ist ein Vater, der sich um einen kümmert, der sorgt und straft.

STANDARD: Sie haben jüngst in einer ORF-Diskussion gesagt, Christen glaubten an "Quatsch". Jemand sagt über Sie, Sie vertreten Ihren Atheismus mit der "Verve des Gläubigen". Tun Sie das? 

Schroeder: Ich bin keine Religionsgegnerin, die Gläubigen leisten zum Teil Sensationelles und jeder soll seine Religion, sein Weltbild haben dürfen; insofern tut mir das Wort "Quatsch" leid. Aber den Machtapparat Kirche, der die Gläubigen und Gottesfürchtigen ausbeutet und daraus ein Vermögen zieht, den lehne ich ab. Und ich habe eine Aversion gegen das kirchliche Frauenbild und wie man Frauen behandelt. Ich verstehe nicht, warum Gläubige diese Ungerechtigkeiten mittragen.

STANDARD: Kommt diese Aversion von Ihrer Zeit in katholischen Privatschulen in Brasilien und Luxemburg?

Schroeder: Jedenfalls fand ich es enorm unsinnig, als der Pfarrer uns Mädchen damals gesagt hat, dass Gott für Frauen nur zwei Wege kennt: heiraten oder Kloster. Ich hab mich bei meinem Vater darüber beschwert, und er hat mir erklärt: "Wenn du groß bist, kannst Du alles machen." Wobei in Brasilien Kirche ganz anders funktioniert als hier, vor allem ist sie keine Staatsmacht. Damals war in der Messe Voodoo dabei, in der Kirche stand ein Topf mit einem Huhn drin und Kräutern, die afrikanischen Urriten waren da eingewoben. Es war bunt, divers, lustig, man war laut in der Kirche, und es gab nichts Angsteinflößendes. Als ich mit 14 Jahren dann nach Österreich kam, war das vorbei. Hier ist alles ganz ruhig in der Messe, die Gläubigen ducken sich und fürchten sich vor der Strafe Gottes. Und die Wissenschaft war bis ins 19. Jahrhundert ja auch in Geiselhaft der Religionen, bis weit nach der Aufklärung.

STANDARD: Die war in Österreich nicht sehr tief verankert...

Schroeder: Doch. Und zu Ende der Monarchie gab es sehr viel Toleranz, liberales Denken und Kreativität. Wien war Kulturhauptstadt der Welt, für Kunst, Wissenschaft, Musik, Physik, Architektur. Da herrschte ein toleranter Geist. Ich glaube, dass das jetzt wieder so ist. Allein, dass es ein Volksbegehren für die Abschaffung der Kirchenprivilegien gibt, deutet darauf hin. So etwas hat es, soviel ich weiß, noch nirgendwo gegeben.

STANDARD: Österreich: ein Hort der Toleranz?

Schroeder: Man soll über Österreich nicht verallgemeinernd schimpfen. Die Österreicher sind sehr tolerant, ein bisschen schlampig, und, was ich so toll finde:Sie sind nicht so verbohrt wie viele andere. Sie unterscheiden Wichtiges von Unwichtigem, und Unwichtiges interessiert sie nicht. Man findet immer eine Lösung, nichts ist starr. Daher ist Österreich ein Land, in dem sehr viel möglich ist.

STANDARD Wien lieben Sie, Sie fahren daher gar nicht oft auf Urlaub. Welches sind Ihre Lieblingsplätze?

Schroeder: Donauinsel, Prater, Jägerhaus, die Stimmung im Café Korb, die vielen Märkte.

STANDARD: Fehlt Ihr Herrenzimmer.

Schroeder: Wieso kennen Sie das?

STANDARD: Weil Sie einmal sagten: "Die alte Emanze leistet sich ein Herrenzimmer".

Schroeder: Ich habe ja nichts gegen Männer. Das Zimmer haben übrigens meine Söhne eingerichtet. 

STANDARD: Sie üben dort Saxofon?

Schroeder: Ja. Ich spiele wirklich schlecht, habe aber erst vor drei Jahren begonnen. Zu meinem 60er spiele ich erstmals vor Gästen.

STANDARD: Sie forschen seit 30 Jahren, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Wie weit sind Sie?

(Schroeders Kollege, Gustav Ammerer, kommt ins gemeinsame Büro.)

Schroeder: Weiter als die Philosophen. Die Naturwissenschafter mit ihrer reduktionistischen Fragestellung waren immer erfolgreicher als die Philosophen, die seit 3000 Jahren über dieselben komplexen Fragen nachdenken und kaum weiterkommen. Jetzt wird es aber auch für uns schwieriger, weil wir technisch riesige Datenmengen erheben können, ihre Analyse aber immer schwieriger wird. Wir haben so viele Bäume, dass wir den Wald nicht sehen.

STANDARD: Wissen wir überhaupt noch, was wir nicht wissen?

Ammerer: Ja. Es wird immer mehr, was wir nicht wissen. Es gibt nur eine Sicherheit: Jeder stirbt einmal.

Schroeder: Aber man weiß nicht, wann und ob’s wehtut. Ich will sterben, wenn mir das Leben reicht. Am liebsten würde ich davon schwimmen, hinaus ins Meer und verschwinden. Viele sagen aber, Ertrinken sei qualvoll. Also könnt ich auf den Berg gehen und erfrieren.

Ammerer: Angeblich ist das Erfrieren auch nicht angenehm.

Schroeder: Schön muss es ja nicht sein.

STANDARD: Was macht den Menschen zum Individuum? Neurowissenschafter Eric Kandel sagt, das Gehirn mache uns zu dem, was wir sind. Das Herz spiele keine Rolle. Was sagen Sie?

Schroeder: Den Menschen machen seine Genetik, seine Epigenetik und seine Erfahrung zum Individuum. Auch wenn man einen Menschen klonierte, wäre er ein Individuum. Viele fragen: Was passiert, wenn man Hitler klonierte. Würde er das Gleiche machen? Er wäre wahrscheinlich ganz anders, hätte ganz andere Erlebnisse gehabt, hätte vielleicht ein Stipendium und wäre ein schlechter Kunststudent. Und das Herz ist eine Pumpe und kein Gefühlsorgan – wenngleich es auf Gefühle sehr stark reagiert.

STANDARD: Ich meine ja die Seele...

Schroeder: Die Seele ist, wie Gott, eine kulturelle Erfindung. Wobei "Seele" ja nicht definiert ist, am ehesten ist damit das Bewusstsein gemeint. Dass man über die eigene Existenz diskutieren kann, das ist natürlich eine tolle Leistung.

STANDARD Passt zur letzten Frage: Worum geht’s im Leben?

Schroeder: Im Leben geht’s um leben. Und im Kern um die Frage, ob man sich reproduziert – und ob man überlebt. (Renate Graber, DER STANDARD, 30./31.3.2013)