Die Passion des unbekannten Künstlers von Saint-Thégonnec war Keckheit.

Foto: Photothèque Bretagne / Pierre Torset

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Finis terrae nannten die Römer den äußersten Westen der Bretagne. Der Name blieb dem Ende der Welt erhalten: Finistère heißt dieses französische Département, das auf drei Seiten vom Meer in Zaum gehalten wird. Doch im Hinterland, dem Argoat, das sich in zerklüftete Vorgebirge und einzelne Menhire auflöst, macht die Bretagne bis heute auf geheimnisvolles Keltenland. Aber eben nicht nur.

Als die Kelten im fünften Jahrhundert von den britischen Inseln flüchteten, hatten sie nämlich nicht nur ihr eigenes Kulturgut im Gepäck, sondern auch das Christentum. Die Sagen um den Zauberer Merlin, die Fee Viviane oder König Artus' Tafelrunde haben sich dadurch in der Bretagne immer mit religiösen Symboliken vermischt. So zählen die Bretonen angeblich 7777 Heilige, von denen die meisten Namen in Rom bestimmt noch nie gehört wurden.

Am markantesten ist in der Bretagne allerdings eine regionale Besonderheit bei der Darstellung dieser Heiligen: Als Calvaires, die im Deutschen recht missverständlich Kalvarienberge genannt werden, haben sich hier zum Teil gewaltige Massive aus verwittertem Granit erhalten, die oft aus mehr als 200 Figuren bestehen. Entstanden sind die umfriedeten Pfarrbezirke mit ihren steinernen Monumenten - die übrigens keineswegs auf einem Berg stehen müssen - in der bretonischen Renaissance vom 15. bis zum 17. Jahrhundert.

Spröder Charme Unbekannter

Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihre Schöpfer meist unbekannt blieben. Es waren keine zu dieser Zeit bekannten Künstler, die die Figuren aus dem spröden Granit meißelten und es dabei verstanden, jedes Gesicht anders, jeden Ausdruck individuell zu gestalten. Doch trotz der Varietät in ihrem Mienenspiel liest man doch in fast allen Gesichtern eine gewisse Abgeklärtheit. Das mag damit zusammen hängen, dass die Figuren meist mit geschlossenen Augen gestaltet wurden und wie blind vor der Wucht der bretonischen Landschaft stehen. Oder viel wahrscheinlicher noch: Wie schon der Name vermuten lässt, handelt es sich bei den Calvaires immer um Darstellungen der christlichen Passionsgeschichte.

Nur wenigen Wanderern begegnet man hier zur Osterzeit, auch wenn der Gang zu den Calvaires ja gerade zu dieser Zeit recht passend erscheinen mag. Und die paar Ausflügler, die dennoch gekommen sind, um die ersten zaghaften Strahlen der Frühlingssonne zu genießen, müssen wohl mit einem harschen Kontrast leben: Sie blicken in die steinernen Mienen von Figuren, in denen sich nichts als Leiden und fassungsloser Schmerz spiegelt.

Zu weiter Passionsweg

Und dennoch drängen sich die sieben wichtigsten Calvaires, die sich vor neun Jahren zu einer Vereinigung zusammenschlossen, geradezu auf als Etappenziele auf dem Fußweg durch die bretonische Landschaft. Einzig: Für eine durchgängige Route wie ihn der großartige Wanderweg 34 entlang der Küste darstellt, liegen die einzelnen Monumente einfach zu weit auseinander. Aus gutem Grund werden also auch die Pilger, die früher alle Stationen wie auf einem Passionsweg, nur eben mit mehreren Wochen Zeit ausgestattet, abgingen, von Jahr zu Jahr weniger.

Den üppigsten Schmuck bietet ohne Zweifel der Calvaire im nach wie vor verträumt wirkenden Dorf Guimiliau. Mehr als 200 Figuren wurden hier Ende des 16. Jahrhunderts geschaffen, dazu auch die mehr oder weniger passenden Szenarien: Zum letzten Abendmahl liegt bereits das Osterlamm auf einer Platte, Kelche und Krüge stehen daneben. Jedes kleinste Detail wurde mühselig aus dem spröden Granit gearbeitet.

Vom kulturhistorischen Wert her ist freilich der Calvaire von Saint-Thégonnec der bedeutendste. Er verfügt zwar nicht über den Figurenreichtum anderer Stätten, dafür aber über einige recht ungewöhnliche Posen: Einer der Peiniger Jesu streckt frech die Zunge heraus, ein Nebendarsteller fährt sich unterdessen durchs wallende Haar. Zudem steht dieser Calvaire im besterhaltenen "enclos paroissiale", also einem der so typischen geschlossenen Pfarrbezirke. Von einer durchgehenden Mauer umfasst, sind hier Kirche, Beinhaus und Kalvarienberg als Einheit zu sehen, so wie das früher in vielen bretonischen Orten der Fall war. Natürlich gehörte - das Beinhaus zeigt es - früher auch der Friedhof zu solch einem Ensemble, doch aus hygienischen Gründen wurden die Gräber nach und nach aus den Ortskernen verbannt.

Über schmale Fahrwege nahe der Stadt Quimper mit ihrer bekannten gotischen Kathedrale nähert man sich schließlich dem ältesten Calvaire der Bretagne. Er steht etwas erhöht, mitten in den Dünen fast unmittelbar am Meer, einsam, nur in der Gesellschaft einer uralten verwitterten Kirche. Dieser Kalvarienberg von Tronoën ist Mitte des 15. Jahrhunderts in einer Landschaft entstanden, die ihren Namen von den hohen, spitzen Kopfbedeckungen der Frauen bekam: den Bigouden. Überdies wurde er an einer Stelle platziert, an der es bereits in vorchristlicher Zeit eine Kultstätte in Hörweite des Meeresrauschens gegeben haben soll, wie es jüngere Ausgrabungsfunde belegen.

Sand in den Granitaugen

Der Calvaire von Tronoën besteht im Grunde nur aus einem einzigen, aber gewaltigen Block, um den sich auf allen vier Seiten zwei Reliefbänder herumziehen. Doch diese erzählerisch reichen figuralen Darstellungen tragen ihre Leidensmiene vor allem wegen des herrlichen Standorts: Die salz- und sandhaltige Luft, die das Meer mit jeder Brise herüberschickt, wirkt auf Dauer wie ein Sandstrahlgebläse. Der Wind hat dazu geführt, dass die meisten der mehr als 550 Jahre alten Figuren bereits bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind. Wer in ihre Gesichter blickt, kann nur mehr schwer sagen, ob sie die weite Bucht von Audierne jemals sahen. (Christoph Wendt, Album, DER STANDARD, 30.3.2013)