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An Ivas Geschichte sind nur Pyramiden und der Souvenirkitsch wahr.

Foto: apa

Er kommt aus Alexandria, und nach der Suezkrise tauscht er sein Gewehr gegen den Äskulapstab, den er im Pharmaziestudium in Beograd erwirbt. Hier lernt er in der Bibliothek meine Tante Iva kennen und wird zu meinem Onkel Rifat. Rassismus ist in meiner Familie nicht einmal ein Fremdwort, und für mich ist seine dunkle Haut eine Folge der ägyptischen Sonne. Bei Asterix wäre er ein "Nubier", in Jugoslawien ist er ein Student aus einem der Blockfreien Staaten, die Tito und Nehru aus der Taufe heben.

Das Foto

Auf dem Hochzeitsfoto meiner Eltern ist er der exotische Trauzeuge, der zusammen mit Tante Iva in ihrem Zimmer im C-7 Soliter in Novi Beograd lebt. Meine Eltern leben im Wohnzimmer und müssen auf ihr Bett warten, bis alle zu Ende fernsehen. Doch auf dem Foto grinst man, die Enge der Wohnsituation ist nicht sichtbar. Kurze Zeit später migrieren meine Eltern nach Österreich, das Wohnzimmer ist nun ausschließlich zum Wohnen da.

Was auf dem Foto nicht zu sehen ist: Mein Papa und Onkel Rifat hassen einander. Warum das so ist und warum Rifat trotzdem Trauzeuge ist, weiß ich bis heute nicht. Als ich ein Kind bin, sagt es mir niemand, und nun, da ich diese Geschichte schreibe, sind alle Beteiligten tot, meine Mutter erinnert sich altersdement nicht mehr, Tante Iva spricht nicht mit uns. Ich muss erkennen, dass Scheiße manchmal doch der Kitt des Lebens sein kann. Alles, was ich weiß, ist, dass Papa und Rifat einmal mit Messern aufeinander losgehen.

Der Käfer

Onkel Rifat arbeitet im alten Teil Beograds auf der rechten Seite der Sava in einer Apotheke. Nach wenigen Jahren kauft er einen weißen VW Käfer. Tante Iva malt mit schwarzem Lack das Symbol der Apotheker, eine Äskulapnatter, die sich um einen Kelch windet, auf beide Türen. Im folgenden Winter fällt so viel Schnee auf das flache Dach des C-7, dass die Hausgemeinschaft beschließt, eine Jugendbrigade aufzustellen, die den Schnee acht Stockwerke in die Tiefe schaufelt. Schon die erste Ladung trifft das Dach von Onkel Rifats Käfer und dellt es ein. Für Tante Iva ist das eine grenzenlose Frechheit, für Rifat einfach nur Kismet.

Als dann der Sommer kommt, ist das Autodach längst wieder buckelrund, und Tante Iva und Onkel Rifat fahren mit dem Käfer nach Sutivan. Für viele Stivanjani ist Rifat ein ungewohnter Anblick, weil sie "crnci" (schwarze Männer) nur aus Filmen kennen. Die Seefahrer unter den Stivanjani sind diesbezüglich entspannter, weil sie Menschen aus Afrika von ihren Reisen zu fernen Häfen schon kennen. Man beschließt, gemeinsam im Käfer nach Beograd zurückzufahren. Oma, Opa, meine Schwester, ich, Iva und Rifat zwängen uns für fast 20 Stunden in den "Hitlerbuckl". Ich habe dieses Erlebnis als "Reise der Verdammten" in meiner Erinnerung gespeichert.

Die Blechautos

Mehrmals im Jahr fährt Onkel Rifat nach Triest, kauft und schmuggelt Jeans, Whiskey und stangenweise Zigaretten seiner Lieblingsmarke, die so heißt wie Superman mit seinem bürgerlichen Pseudonym. Die Jeans, den Alkohol und einen Teil der Zigaretten verkauft Iva an Freunde und Bekannte, die Dinare tauscht Rifat in Ägypten gegen Dollar und spart sie auf einem Devisenkonto. Weder Iva noch Rifat fällt jemals ein, auch eine Jeans für meine Schwester und mich zu kaufen.

Unsere Eltern schenken uns ein kleines Autodrom aus Formblech. Die Autos haben einen Federmotor und können mit einem kleinen Schlüssel aufgezogen werden. Solange Mama und Papa da sind, spielen wir damit nach Herzenslust. Als sie nach Wien abreisen, nimmt uns Tante Iva das Autodrom weg weil, es so laut ist, dass Onkel Rifat sein Nachmittagsschläfchen nicht abhalten kann oder abends nicht in Ruhe fernsehen kann. Sie gibt es uns nur vormittags zurück, wenn Rifat in der Apotheke arbeitet.

Die Reise nach Ägypten

Bald hat Rifat eine eigene Apotheke in staatlicher Pacht in Apatin, einer Kleinstadt nahe Beograd, und ist nur am Wochenende im C-7. Mit unserem Autodrom dürfen wir trotzdem nur am Vormittag spielen. Er fährt seltener nach Triest, weil nun die Apotheke auf dunklen Wegen das Devisenkonto füllt.

Einige Jahre vergehen, meine Schwester und ich sind bereits in Wien und kommen jeden Winter in den Weihnachtsferien nach Beograd. Bei einem dieser Besuche erzählt Tanta Iva von ihrer ersten und einzig bleibenden Reise nach Ägypten. Dort wird sie freundlich von Rifats Familie aufgenommen, zu den Pyramiden geführt und mit Touristenkitsch beschenkt. Erst einige Jahre später erfahren wir von einer Bekannten, dass Iva in Wahrheit mit einer Schulklasse als Betreuerin in Ägypten weilt, von Rifats Familie in Alexandria ignoriert wird und tatsächlich nur die Pyramiden und der Souvenirkitsch an ihrer Geschichte wahr sind.

Traurige Wahrheiten

Andere Wahrheiten kommen ans Licht, nachdem Rifats bevorzugte Zigarettenmarke ihn umbringt. Er stirbt an einem Sommertag in Beograd an Lungenkrebs. Gleich nachdem Vertreter der ägyptischen Botschaft bei Iva vorsprechen, um ihr das Beileid auszusprechen, plündert sie sein Devisenkonto. Mit diesem Geld kauft sie später dem Staat Opas Wohnung im C-7 ab. Bald kommt auch ans Licht, dass Rifat all diese Jahre eine Frau in Apatin hat und zwei weitere in Alexandria. Ob es auch Rifats Kinder irgendwo zwischen Apatin und Ägypten gibt, bleibt bis heute ungewiss.

So lebt meine Tante Iva eine Lüge, auf die sie andere Lügen türmt. Sich und allen, die es wissen wollen (oder auch nicht), wiederholt sie all die Lügen, bis sie ihr selbst wahr erscheinen und bis ihre Umgebung aus Mitleid vorgibt, sie für wahr zu halten. Auch ich habe lange Zeit Mitgefühl mit meiner Tante Iva und ihrem verpfuschten Leben. Bis noch eine Wahrheit ans Licht kommt.

Schreckliche Wahrheit

Als mein Großvater im Krankenhaus liegt, wo er nach wenigen Wochen stirbt, steckt meine Mutter ihm Zigaretten zu, damit er sie den Krankenschwestern gibt, um sich eine bessere, weniger ruppige und etwas menschlichere Behandlung zu erkaufen. Diese Zigaretten nimmt Tante Iva ihm umgehend wieder weg und gibt sie Onkel Rifat. Ivas Logik ist einfach. Sie sagt: "Die Schwestern haben ihren Job zu machen! Mit oder ohne Zigaretten!"

Ich habe kein Mitgefühl mit Iva mehr, so wenig sie eben Mitgefühl mit ihrem eigenen Vater hat, als er es am dringendsten braucht. Nun, nachdem auch meine Oma eines Tages von ihrem Nachmittagsschläfchen nicht mehr erwacht, lebt Tante Iva alleine in der Wohnung im C-7. Sie ist eine verbitterte alte Frau, die jedem und allem die Schuld an ihrem schiefen Leben gibt. Und irgendwo in einem Schrank rostet unser Blechautodrom. (Bogumil Balkansky, daStandard.at, 29.3.2013)