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Insel im Feld: An Ufern von Teichen können sich auch Refugien für kleine Gewächse bilden, die genau an ihren Standort angepasst sind.

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Das Braune Zypergras, das an schlammigen Uferpartien wächst, dient den Botanikern als Modellorganismus.

Foto: Deutschlands Flora/Johann Georg Sturm

Endlich Frühling. Frisches Grün sprießt allerorten, auch auf den ödesten Flächen regt sich plötzlich pflanzliches Leben. Was viele jedoch nicht ahnen: Manch keimende Saat ist schon erstaunlich alt. Sie entstammt stillen Reserven und hat mitunter jahrzehntelang in der Erde geschlafen.

Fachleute bezeichnen solche schlummernden Bestände als Diasporenbanken. Im sibirischen Permafrost fanden russische Wissenschafter sogar unreife Samen von Nelkengewächsen, die auch nach mehr als 30.000 Jahren noch lebensfähig waren, wie sie im Vorjahr im US-Fachmagazin PNAS berichteten. Eine Sensation.

Methusalemkörner

Solche Methusalemkörner wird es in Mitteleuropa nicht geben, aber 30 bis 40 Jahre sind in unseren Breiten durchaus üblich, erklärt der Vegetationsforscher Karl-Georg Bernhardt von der Universität für Bodenkultur (Boku) in Wien im Gespräch mit dem Standard. Die Lebensdauer ist vor allem vom Sedimenttypus abhängig, wie der Experte erläutert. Schlammablagerungen seien besonders gut geeignet, so wie auch Niedermoorböden. "Je mehr Sauerstoffausschluss, desto besser." Derart lebensfeindliche Bedingungen bieten Schutz vor hungrigen Mäulern und Mikroorganismen. Pilze, Bakterien, Wirbellose: "Alles interessiert sich für die Samen", betont Bernhardt. "Ein Großteil wird von Regenwürmern gefressen."

Es sind vor allem kurzlebige Pflanzengesellschaften, in denen Diasporenbanken ein zentrale Rolle spielen. Pioniervegetationen wie die sogenannten Ruderalfluren zum Beispiel. Sie entstehen dort, wo der Boden aufgebrochen wird, und werden von schnellwüchsigen Gewächsen beherrscht. Nach einer gewissen Zeit kommen weitere Arten hinzu. Nach und nach verdrängen sie die Pionierpflanzen, der Sukzessionsprozess nimmt seinen Lauf. Am Ende wächst in der Regel Wald. Wird dieser zerstört, beginnt der Zyklus erneut. Von Wind oder Tieren herbeigetragene Samen ergreifen dann ihre Chance, aber auch solche, die lange im Boden schliefen.

Einige besonders gut angepasste Pionierpflanzen findet man an den Ufern von Seen und Flüssen. Sie sind unter anderem die Heimat der Zwergbinsengesellschaften, bestehend aus meist unscheinbaren Gräsern und Kräutern. Diese Arten haben einen extrem schnellen Lebenszyklus, berichtet Karl-Georg Bernhardt.

Das einjährige Scheidenblütgras (Coleanthus subtilis), ein typischer Vertreter der Zwergbinsengesellschaften, braucht von der Keimung über die Blüte bis zur Reife der neuen Samen im Durchschnitt nur 45 bis 50 Tage. Der Hintergrund: Die Pflanzen besiedeln bevorzugt solche Uferbereiche, die nur bei niedrigem Wasserstand trockenfallen. Eigentlich handelt es sich dabei eher um kurzfristig exponierte Teile des Gewässerbodens. Ein heikler Lebensraum. Das Wasser kann praktisch jederzeit zurückkehren und die Pioniere ertränken. Wer sich am schnellsten fortpflanzt, ist klar im Vorteil.

Bei einem steigenden Pegel vermag C. subtilis sogar in 28 bis 30 Tagen einen kompletten Vermehrungszyklus zu vollenden, wie Bernhardt und einige Kollegen experimentell nachweisen konnten. Das Gras verlagert dabei offensichtlich seine Wachstumsressourcen. Es bildet weniger Samen, die dafür aber schneller reif werden. Diese bemerkenswerte Flexibilität wird unter Biologen auch "phänotypische Plastizität" genannt. Zweifellos eine evolutionäre Erfolgsstrategie. Doch worauf basiert sie? Wie ist die phänotypische Plastizität im Erbgut festgelegt, und welche Rolle spielen die Diasporenbanken?

Zypergras als Modell

Diese Fragen will ein gemeinsames Expertenteam der Boku und der tschechischen Universität Brno im Rahmen umfassender Untersuchungen klären. Karl-Georg Bernhardt leitet das im vergangenen Sommer gestartete, vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderte Projekt.

Als Modellorganismus wählten die Wissenschafter Cyperus fuscus, das Braune Zypergras, ein häufiges Mitglied der Zwergbinsengesellschaften. Die fünf bis 20 Zentimeter hohen Pflanzen kommen in erster Linie an schlammigen Uferpartien vor, unter anderem in Flussauen wie der Lobau und den Tullnerfelder Donauarmen - ebendort, wo Wasserstandsschwankungen auftreten, erklärt Bernhardt.

Durch die Gewässerregulierungen sind solche Lebensräume gleichwohl rar geworden. Doch die Zwergbinsen haben eine Ausweichmöglichkeit gefunden. Trockenstehende Fischteiche dienen ihnen als Sekundärhabitate. In der traditionellen Karpfenzucht, wie man sie noch in Böhmen oder auch im Waldviertel praktiziert, wird ein Teil der Teiche über den Sommer nicht genutzt. Sie bleiben leer und bilden so Refugien für Cyperus fuscus und Co.

Interessanterweise scheinen sich die Kleingewächse sehr genau ihrem jeweiligen Standort anzupassen. Die Populationen sind nicht nur räumlich getrennt, es tritt auch ein zeitlicher Isolationseffekt ein. Letzterer entsteht dadurch, dass die Siedlungsflächen an den Flüssen und in den Teichen zu unterschiedlichen Zeiten trockenfallen und dementsprechend auch die Blühperioden unterschiedlich sind. "Deshalb gibt es zwischen diesen Beständen vermutlich eine hohe genetische Variabilität", sagt Karl-Georg Bernhardt.

Aber gilt das auch für die Diasporenbanken? Nicht unbedingt. Die schlafenden Samen des Braunen Zypergrases lagern fast alle in den obersten zehn Zentimetern der Schlammablagerungen und könnten somit theoretisch alle erwachen, sobald sich das Wasser zurückzieht. Es keimt allerdings nur maximal ein Drittel, der Rest nicht. Das, meint Bernhardt, muss irgendwie im Erbgut geregelt sein. Mit anderen Worten: Es scheint an ein und demselben Standort mehrere genetisch unterschiedliche Teilpopulationen ein und derselben Spezies zu geben. Und nur eine davon wächst und pflanzt sich fort.

Genetisches Gedächtnis

Diese Vielfalt dürfte das wichtigste Geheimnis der Diasporenbanken sein. Ihre Funktion ist wahrscheinlich die eines "genetischen Gedächtnisses", glauben die Boku-Forscher und ihre tschechischen Kollegen. Die schlafenden Samen entstammen schließlich Pflanzen, die sich irgendwann einmal erfolgreich vermehrt haben, bei vermutlich etwas anderen Umweltbedingungen. Sollte nun die trockene Periode wieder früher einsetzen, könnten genau diese Nachkommen wieder aktiv werden. Wachwechsel, sozusagen. Ein genialer Trick der Natur. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 20.03.2013)