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Sein einziger Gesellschafter ist der Lautsprecher eines Tonbandgeräts: Klaus Maria Brandauer als Becketts Krapp.

Foto: apa/PATRICK PLEUL

Hinter den Grenzen Berlins erstreckt sich nach Osten hin das märkische Oderland. Schnurgerade Alleen führen an Städtchen wie Schöneiche oder Hoppegarten vorüber. Diese Ecke der Welt kann sich nicht recht entscheiden, ob sie noch Gegend ist oder doch schon eine Landschaft. So oder so: Nach rund 70 Kilometern erreicht man das klassizistische Schloss Neuhardenberg.

Dort, in der von Karl Friedrich Schinkel erbauten Kirche, sitzt dieser Tage ein Clown hinter einem schweren Metalltisch. Der Mann mit der Knollnase im Gesicht hört auf den Namen "Krapp" (Klaus Maria Brandauer). Der Text, den er spricht, hat der Ire Samuel Beckett 1958 geschrieben: Das letzte Band. Das Stück spielt "spät abends, in der Zukunft".

Die Gegenwart ist für den 69-jährigen Krapp eine reichlich verwickelte Angelegenheit. Sein Leben hat er im Wesentlichen hinter sich. Die Zeit, die ihm bleibt, verbringt er mit einem Tonbandgerät. Die Spulen, die er hustend aus den Laden des Schreibtischs herauszieht, sind seine letzten Gesellschafter. Die meisten hortet er in verbeulten Eisenschachteln.

Seine Magnetbänder behandelt Krapp wie Geschöpfe: Sie sind Ton von seinem Ton. Sein liebstes Band hat er vor 30 Jahren besprochen. Schon damals hielt er Rückschau auf sein noch junges Leben: gönnerhaft und ein wenig altklug. Die Tonbandstimme erinnert sich ihrer wenig gesundheitsförderlichen Leidenschaft für Alkohol und Bananen. Vor allem aber belauscht der alte Krapp den jungen Krapp dabei, wie dieser Frauen in lauter kleine Häppchen der Erinnerung zerlegt. Krapp ist der Schlemmer als Tontechniker, der die immer gleiche Mahlzeit wiederkaut und neu verdaut.

Sternchen in Reih und Glied

Die Gegenwart gehört dem evangelischen Gotteshaus in Neubrandenburg. An der hellblauen Decke funkeln goldene Sternchen in Reih und Glied. Ein Zettel der Gemeindeväter untersagt ausdrücklich, die Beine auf der Leiste für die Liederbücher abzustellen. Peter Stein hat Das letzte Band im Auftrag der Kulturstiftung Schloss Neuhardenberg inszeniert. Er hält es, wie nicht anders zu erwarten, mit der lückenlosen Entzifferung des Originaltextes. Es gibt keine "neue Sicht" auf Beckett, kein originelles " Regie-Konzept". Mit derlei Unsinn hat man Stein ja bereits nach Italien vertrieben.

Die reine Gegenwart gehört Brandauer, der als Koproduzent des wunderbar konzentrierten Abends zeichnet. Die Bühne hat Ferdinand Wögerbauer mit drei schwarzen Abhängern in ein Sterbezimmer verwandelt - keine Kleinigkeit in einer Kirche. Brandauer steht das Haar in Wolkenbänken vom Kopf ab. Er ähnelt ein wenig Krusty dem Clown aus den Simpsons. Während die Lampe über ihm aufglimmt, steht ihm das blanke Entsetzen ins stark geschminkte Gesicht geschrieben.

Unendlich langsam wandert Krapps Miene von rechts nach links. Das schönste Paradoxon dieser atemberaubenden Inszenierung ist ihr theologischer Ernst. Mit ein paar wenigen Kopfbewegungen folgt Brandauer der Fließrichtung der Erinnerung. Wenn er sich erhebt, schwer wie ein Fels, erschüttert ihn ein böser Husten. Dieser Krapp ist kein augenzwinkernder Charmeur, auch kein Beamter aus einer Kafka'schen Kanzlei. Ihm eignet die Würde des "letzten Menschen".

Er beäugt die Taschenuhr wie eine Eule. Dabei ist für ihn nichts gleichgültiger als die verrinnende Zeit. Die geliebte Banane verleibt er sich wie einen Stoßzahn ein; das Ausrutschen auf der Schale zitiert er wie eine lästige Fleißaufgabe. Brandauers Krapp ist "der Mensch in seiner Not". Von jeglichem Trost entblößt, führt dieses Faktotum Zwiesprache mit seinem jüngeren Selbst. Flötet und fistelt mit seiner Tonbandstimme um die Wette, ehe er das Mittelgebirge aus Spulen und Schachteln vom Tisch fegt.

Krapp ist bei Brandauer bestens aufgehoben. Dieser Kauz erlebt sein allmähliches Verlöschen als ewige Gegenwart. Man möchte ihn bemitleiden - und muss ihm doch von Herzen gratulieren. Die nahe Zukunft führt Brandauers Beckett-Figur nach Paris, Lissabon, Moskau und zum Movimentos-Festival nach Wolfsburg. Auch Wien darf sich Hoffnungen machen. (Ronald Pohl aus Neuhardenberg, DER STANDARD, 18.3.2013)