Der Wiener Psychologe Helmut Leder

Foto: Universität Wien

Wien - Alzheimererkrankungen wirken sich dramatisch auf die Gedächtnisleistung aus, indem beispielsweise die Kontinuität im Erleben stark beeinträchtigt wird. Psychologen um Helmut Leder von der Universität Wien haben nun aber gezeigt, dass der ästhetische Sinn - also unser Gefallen an Kunst - auch bei fortgeschrittener Alzheimer-Erkrankung stabil bleibt. 

Alzheimer ist eine Erkrankung des Gedächtnisses, die sich auf eine Vielzahl kognitiver Fähigkeiten auswirkt: Massive Einschränkungen des Gedächtnisses, Verlust von Erinnerungen, aber auch negative Einflüsse auf komplexe Wahrnehmungen. Bis 2050 ist mit 115 Millionen Alzheimer-Erkrankten weltweit zu rechnen. Angesichts dieser Prognose sei es umso relevanter, die Krankheit besser zu verstehen, um die Diagnose, besonders aber die Therapie zu optimieren, so die Forscher.

Stabile Einschätzung trotz Erkrankung

Aufbauend auf frühere Studien, die bereits gezeigt hatten, dass Alzheimer-Patienten eine gewisse Stabilität bei der Einschätzung moderner Kunst zeigten, haben die Wissenschaftler der Universität Wien Alzheimerpatienten in unterschiedlich fortgeschrittenen Stadien untersucht. Dabei wurden den PatientInnen neben gemalten Landschaften und Porträts auch dazu passende Fotografien der Porträtierten und der Landschaftsgemälde vorgelegt. 

Gesichter bilden eine spezielle Klasse von Objekten, da sie für das soziale Wesen "Mensch" äußerst wichtig sind: Der Mensch widmet der Gesichtserkennung besondere und außerordentlich viele Ressourcen. Demnach existieren im Gehirn Bereiche, die auf Gesichtsverarbeitung spezialisiert sind. Deshalb war es für die Wissenschaftler wichtig, herauszufinden, ob bei Alzheimer-Erkrankten die Fertigkeiten der Gesichterbeurteilung erhalten bleiben.

Die Teilnehmer wurden gebeten, Bilder danach zu sortieren, wie gut sie ihnen gefallen, also in eine Rangordnung zu bringen. Zu jedem Landschaftsgemälde und gemalten Porträt gab es auch ein entsprechendes Foto. Vierzehn Tage später folgte ein Wiederholungstest: Dabei wurde nun auch gefragt, ob sich die TeilnehmerInnen an gewisse Bilder überdurchschnittlich gut erinnerten. Wie erwartet, war dies bei der gesunden Kontrollgruppe der Fall, nicht aber bei den Alzheimer-PatientInnen. Hinsichtlich der Rangordnung wurde für jeden Teilnehmer ein Index der Stabilität der Ränge berechnet. 

Überraschend war, dass die PatientInnen bei Landschaftsgemälden und Kunst-Porträts wie auch bei Landschaftsbildern Stabilität in ihren ästhetischen Präferenzen zeigten und die Ergebnisse damit annähernd gleich denen der gesunden Kontrollgruppe waren. Das Urteil war auch nach zwei Wochen ähnlich wie bei der ersten Testreihe, auch wenn sich diese PatientInnen nicht wirklich an die Bilder erinnern konnten.

Porträts anders beurteilt als Kunst

Anders war das Ergebnis aber bei Porträtfotografien: Für die Fotos von Gesichtern gab es keine ästhetische Stabilität. Sie wurden nach zwei Wochen ganz anders eingeschätzt. "Wir können nur vermuten, was das bedeutet. Es ist aber nicht auszuschließen, dass unsere ästhetische Betrachtung bei echten Gesichtern beziehungsweise Fotos andere Prozesse umfasst, als die ästhetische Betrachtung, die dem Kunstgenuss zugrunde liegt. Vielleicht ist es die Kategorie Kunst, deren ästhetischer Genuss auch bei Menschen mit Alzheimer-Erkrankung erhalten bleibt", erklärt Helmut Leder.

Interessanterweise zeigten auch PatientInnen in fortgeschrittenem Stadium dasselbe Ergebnismuster. "In weiteren Studien werden wir klären, inwieweit unsere Befunde geeignet sind, die Lebensqualität von Patienten durch die Beschäftigung mit Kunst zu verbessern und wie dies auch therapeutisch von Nutzen sein könnte. Die Studie zeigt aber auch ganz generell, dass unser Sinn für Ästhetik eine unabhängige, ganz eigene Form der Betrachtung darstellt", so Helmut Leder abschließend. (red, derStandard.at, 13.3.2013)