Es waren wichtige Klarstellungen, die der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer in der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des "Anschlusses" an Nazi-Deutschland vorgenommen hat. Das Staatsoberhaupt sprach vom "Tag der Schande" und vom sogenannten " Anschluss". Deutlich benannte er die Mitschuld der Österreicher. Diese seien "massiv" an NS-Verbrechen beteiligt gewesen. Er sprach sich auch klar gegen einen Schlussstrich aus, bekundete Respekt vor den Deserteuren der Wehrmacht und ließ keinen Zweifel daran, dass "Gesten der Entschädigung" zu spät erfolgt seien.

Der Bundespräsident ging damit über das hinaus, was Bundeskanzler Franz Vranitzky 1993 und Fischers Vorgänger Thomas Klestil ein Jahr später gesagt hatten: Sie hatten sich als offizielle Repräsentanten erstmals klar von der vorherrschenden Sichtweise distanziert, dass Österreich das erste Opfer der Nazi-Aggression geworden und der sogenannte "Anschluss" erzwungen gewesen sei.

Ihre Aussagen waren klare Worte nach der jahrelangen Debatte über die sogenannte "Pflichterfüllung" des dennoch gewählten Bundespräsidenten Kurt Waldheim, die Kulturkämpfe um ein Antifaschismus-Denkmal am Albertina-Platz und das Theaterstück Heldenplatz von Thomas Bernhard.

Bis in die 1990er-Jahre wollten viele Österreicherinnen und Österreicher nicht an der Nachkriegssicht rütteln. Opfer und Täter hatten sich eingerichtet im sogenannten Neuen Österreich, wie dies Robert Schindel in seinem jüngsten Buch Der Kalte eindrücklich beschreibt. Die Sozialpartnerschaft und die Konsenssuche waren der Kitt in den Nachkriegs- und Wiederaufbaujahren. Die Deutschland auch von außen aufgezwungene Vergangenheitsbewältigung ersparte sich Österreich jahrzehntelang.

Inzwischen ist das Thema Aufarbeitung auch in Österreich angekommen: Die Verbrechen der Nazizeit, begangen auch durch Österreicher, werden in Schulen nicht mehr länger ausgespart. Enkel tun sich leichter, Großvätern Fragen zu stellen, als die Nachkriegsgeneration. Auf allen TV-Kanälen werden Dokumentationen ausgestrahlt. Ausstellungen wie jene mit dem Titel Nacht über Österreich in der Nationalbibliothek - auf deren Balkon Adolf Hitler damals zu den Massen auf dem Heldenplatz sprach - tragen mit den dort gezeigten Aufnahmen dazu bei, den Opfermythos sichtbar zu zerstören: Die sogenannten Opfer jubelten zu Zehntausenden auf dem Heldenplatz und beklatschten die sogenannten " Reibpartien", in denen Juden zur Reinigung von Straßen gezwungen worden waren. Die damalige Verzweiflung seitens der wirklichen Opfer wird in den ausgestellten Kalendereintragungen etwa der Publizistin Hilde Spiel deutlich: "Die Eltern sitzen im Feuer. Der Teufel regiert."

Eine vom Standard zum Jahrestag in Auftrag gegebene Umfrage - die insbesondere in ausländischen Medien von der BBC über die Nachrichtenagentur Reuters bis zur Süddeutschen Zeitung ausführlich zitiert worden ist - sorgte zu Recht für Aufsehen: Dass 42 Prozent der Befragten in Österreich meinen, "unter Hitler war nicht alles schlecht", zeigt, dass noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten ist.

"Die Verdrängungskultur ist in Österreich etabliert", schreibt Alfred Goubran in seinem Buch Der gelernte Österreicher. Deshalb müssen Aufarbeitung und Aufklärung weitergehen, vieles muss immer wieder klar gesagt werden - 75 Jahre danach darf es keinen sogenannten Schlussstrich geben. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 13.03.2013)