Karl Kriechbaum: "Wenn man die Produktivität der Mitarbeiter mit ein paar Maßnahmen nur um ein paar Prozent steigert, erhöht sich der Gewinn für die Firma mitunter signifikant."

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Strafen bis zu 16.000 Euro könnten auf Firmen zukommen, wenn sie die Verpflichtung zur Evaluierung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz ignorieren. In Relation zu den Kosten, die durch Produktivitätsverlust und Stressintensität anfallen, ein geringer Betrag, meint Arbeitspsychologe und Psychotherapeut Karl Kriechbaum im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Die Evaluierung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz ist jetzt im Arbeitnehmerschutzgesetz verankert. Wie sieht die Regelung genau aus?

Kriechbaum: Seit 1. Jänner 2013 müssen Evaluierungen durchgeführt werden, notwendig ist das bereits ab einem Mitarbeiter.  Arbeitsinspektoren sind für die Überprüfung zuständig. Liegt die Evaluierung nicht vor, dann gibt es eine Aufforderung. Wird die ignoriert, kann es zu einer Strafe kommen. Leider ist nicht ganz klar, welche Tests verwendet werden dürfen. Letztendlich entscheidet der Arbeitsinspektor, ob der Test für eine Evaluierung geeignet ist. Das ist eine gesetzliche Unsicherheit, die sich erst bessern wird, wenn erste Erfahrungen vorliegen.

derStandard.at: Welche Tests gibt es?

Kriechbaum: Einfachste Tests können von Unternehmen online durchgeführt werden. Zum Beispiel anhand von 100 Fragen. Der Betrieb bekommt einen Benutzernamen, jeder Mitarbeiter ein eigenes Kennwort. Danach erfolgt die Auswertung. Das Gesetz fordert nur die Eruierung, ob objektive Belastungen gegeben sind. Zum Beispiel, ob die Arbeitsmittel zur Verfügung stehen, ob Konflikte existieren oder ob es von Chefseite Kommunikationsstörungen gibt. Meiner Meinung nach ist das zu wenig. Das Gesetz schreibt nicht vor, das Stressniveau zu erheben. Also, ob jemand angespannt oder nervös ist.

derStandard.at: Warum wurden Stressfaktoren nicht erfasst?

Kriechbaum: Das Gesetz war in der Entstehung anscheinend ein ziemlicher Krampf, weil auch hier unterschiedliche Interessen und Ansichten eine Rolle spielen. Tests können zum Beispiel in vier verschiedene Bereiche gegliedert werden. Die objektiven Belastungen, die laut Gesetz erhoben werden müssen, das Stressniveau (angespannt oder nervös), die Stresssymptome (zum Beispiel Schlafstörungen) und die Stressfolgen (Engagement, Belastbarkeit, Krankenstand). Der Aufwand ist nicht viel größer, wenn man noch ein paar Fragen dazu nimmt. Die Analyse ist aber viel tiefergehender.

derStandard.at: Welche Kosten fallen an?

Kriechbaum: Es gibt zum Beispiel Fragebögen mit 163 Fragen, welche mit 60 Fragen. Um die Mitarbeiter zum Mitmachen zu animieren, bekommt bei meinen Tests jeder eine anonyme, automatische Bildschirmauswertung. Mit seinen Stresswerten, Stressfolgen und Stresssymptomen. Für eine Firma mit 200 Leuten kostet das etwa 300 Euro. Die Auswertung erfolgt weitgehend automatisch.

derStandard.at: Was passiert bei einem negativen Ergebnis?

Kriechbaum: Wenn der Test nicht gut für das Unternehmen ausfällt, müssen verpflichtend Bewältigungsmaßnahmen durchgeführt werden, etwa Beratungen, Workshops. Das Resultat sollte eine Verbesserung der Arbeitsplatzsituation sein.

derStandard.at: Bis wann muss die Evaluierung erfolgen? Bis Ende des Jahres?

Kriechbaum: Der Arbeitsinspektor kann jetzt schon nach der Evaluierung verlangen. Existiert sie nicht, kommt es zu einer Aufforderung mit einer schriftlichen Terminsetzung. Das heißt, es gibt keine Übergangsfristen. Derzeit ist es mehr Beratung als Bestrafung. Im Wiederholungsfall kann eine Strafe von bis zu 16.000 Euro ausgesprochen werden. Meine Erfahrung ist, dass die Firmen derzeit noch überhaupt keine Ahnung haben, wie die Umsetzung erfolgen soll. Selbst Juristen sind sich noch nicht sicher, wie das Gesetz angewendet wird.

derStandard.at: Wann kommt es zu dieser Höchststrafe von 16.000 Euro? Wenn man die Aufforderung zur Evaluierung beispielsweise fünf Mal ignoriert?

Kriechbaum: Eher früher, vielleicht sogar schon beim dritten Mal. Problematisch wird es beispielsweise, wenn es zu einem Arbeitsunfall kommt und der Unfall durch Maßnahmen im Zuge der Evaluierung hätte verhindert werden können. Das ist vergleichbar mit einem Auto, das kein Pickerl hat.

derStandard.at: Wie ist der Strafrahmen?

Kriechbaum: Die Strafe fängt bei ca. 170 Euro an und geht bis 8.000 Euro, im Wiederholungsfall kann sie sich auf 16.000 Euro verdoppeln. Das ist schon ein recht ordentlicher Hebel, um Druck auf Firmen zu machen. Dabei soll die Evaluierung ja keine unangenehme Maßnahme des Gesetzgebers sein, sondern Firmen bei der Verbesserung helfen. Für das Unternehmen geht es letztlich auch darum, die Produktivität zu erhöhen, also Stresssymptome, Fluktuation, Krankenstände in den Griff zu bekommen und Umsätze und Gewinne wieder zu steigern.

derStandard.at: Wie viel Potenzial gibt es?

Kriechbaum: Laut einer neuen Untersuchung wird ein Drittel der Arbeitszeit in Österreich produktivitätslos vergeudet. Von 240 Arbeitstagen sind das 84. Aber nicht, weil die Mitarbeiter zu faul sind, sondern weil sie zum Beispiel unter psychischen Belastungen leiden oder ein schlechtes Arbeitsmanagement vorliegt. Wenn man die Produktivität der Mitarbeiter mit ein paar Maßnahmen nur um ein paar Prozent steigert, erhöht sich der Gewinn für die Firma mitunter signifikant. Es steckt ja nicht nur weiche Psychologie dahinter, sondern das ist harte Betriebswirtschaft.

derStandard.at: Welche Maßnahmen führen zu einer Produktivitätssteigerung?

Kriechbaum: Zum Beispiel, indem ich den Stresspegel senke. Mit einfachen Workshops wie einem Entspannungstraining, damit die Leute ruhiger, ausgeglichener und konzentrierter werden. Der zweite Punkt sind Verbesserungen direkt am Arbeitsplatz und die Einbeziehung der Führungskräfte. Ein großer Schwachpunkt in Österreichs Unternehmen, vielleicht sogar weltweit, sind die unmittelbaren Führungskräfte. Viele sind weder ausgebildet noch geeignet. Solche Schulungen muss man sehr subtil durchführen, weil Führungskräfte sehr empfindlich reagieren, wenn man sie kritisiert. Der dritte Punkt ist die kognitive Umstrukturierung, eine Methode der kognitiven Verhaltenstherapie.

derStandard.at: Wie funktioniert das in Firmen?

Kriechbaum: Hier versucht man, Gedanken, Beurteilungen, Meinungen zu verändern. Weniger die objektiven Gegebenheiten lösen psychische Belastungen und Stress aus, sondern falsche Beurteilungen. Laut Untersuchungen sind im zwischenmenschlichen Bereich bis zu 90 Prozent der Bewertungen von anderen Personen falsch. Es kommt zu Missverständnissen und Frust. Das sind die ärgsten Stressoren, nur weil der Chef zum Beispiel einmal böse schaut oder nicht richtig grüßt. Mitarbeiter interpretieren das oft sehr gegen sich und bekommen Ängste oder Aggressionen. Also Stress, was eine Leistungsverminderung bewirkt. Beim Kognitionstraining geht es um das richtige Beurteilen und Denken. Das sind oft triviale Dinge, die man relativ einfach kommunizieren kann. In Workshops werden  entsprechende Fallbeispiele, Erklärungen und Trainingsprogramme dargestellt.

derStandard.at: Wie zum Beispiel?

Kriechbaum: Man hat einen Menschen im Büro, der irgendeine Marotte, eine Unart hat. Etwa, dass er dauernd nörgelt oder sich in Dinge einmischt. Das ist zwar lästig, zugleich ist es aber völlig sinnlos, sich dauernd darüber zu ärgern. Der Ärger verursacht viel mehr Schaden als das bisschen Nörgeln. Es nicht persönlich zu nehmen, es zu ignorieren, wäre am einfachsten. Dazu gibt es Übungen, zum Beispiel in Form von Audio-Dateien,  die besagen: "Stopp! Aufregen ist völlig sinnlos, der meint es nicht persönlich, er kann nicht anders." Solche Gedankengänge kann man trainieren und verinnerlichen, wenn sie auf einer überzeugenden Selbsterkenntnis beruhen.

derStandard.at: In einer Studie haben Sie verschiedene Arbeitsstile untersucht und dabei das aktiv-langsame Arbeiten als produktivste Form identifiziert. Worum geht es da?

Kriechbaum: Das ist ein Arbeitsstil, bei dem entspanntes, konzentriertes, konstruktives, zielgerichtetes Arbeiten vorherrscht. Der Fokus soll konsequent auf die jeweilige Aufgabe gerichtet sein, alles der Reihe nach. Also nicht drei Dinge zugleich machen. Das Multitasking ist ja sowohl für die Produktivität als auch für den Betroffenen schädlich. Von äußeren Dingen soll man sich möglichst wenig irritieren lassen. Ob das jetzt das Läuten eines Telefons ist, ein Mitarbeiter, der nervt oder ein Chef, der etwas will. Durch dauernde Unterbrechungen und Ablenkungen sinkt die Produktivität. Wenn man aus dem konzentrierten Arbeiten rausgerissen wird, braucht man bis zu 29 Minuten, um sich wieder auf die vorige Arbeit zu konzentrieren. Das sind immense Produktivitätsverluste.

derStandard.at: Wie lässt sich das im Arbeitsalltag umsetzen?

Kriechbaum: Ein Beispiel: Ich habe einen Termin und komme zu spät. Das optimale Vorgehen wäre, mir zu denken: "Ok, ich komme jetzt zehn Minuten zu spät, das könnte Konsequenzen haben. Aber bevor ich mich darüber aufrege und völlig fertigmache, schwitzend und hektisch hinkomme, ist es besser, wenn ich mich langsam und entspannt bewege, was oft nicht nur keine Zeit kostet, sondern sogar Zeit einspart, und dann fit zum Termin erscheine. Komme ich zu spät und zudem völlig konfus hin, habe ich ja noch mehr Probleme. Es ist immer auch eine Art Schadensbegrenzung.

derStandard.at: So ein Arbeitsstil wird sich nicht so einfach über eine gesamte Firma stülpen lassen?

Kriechbaum: Zuerst müssen einmal die Geschäftsführung und Personalverantwortlichen überzeugt werden. Das geht, mit den richtigen Argumenten. Meiner Erfahrung nach tun sich rund 30 Prozent der Führungskräfte und Mitarbeiter sehr schwer, die optimale Arbeitsweise "aktiv-langsam" nachhaltig zu realisieren, weil sie etwa an schweren Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen leiden. Theoretisch könnte man die Produktivität um ein Drittel erhöhen. Alles wird man nicht optimieren können, aber wenn es zehn Prozent sind, dann kann man den Gewinn bei gewissen Konstellationen verdreifachen.

derStandard.at: Psychische Belastungen am Arbeitsplatz müssen laut dem Gesetz "regelmäßig" erhoben werden. Wie ist das definiert?

Kriechbaum: Das weiß man anscheinend nicht so genau. Einmal im Jahr oder alle zwei Jahre wäre es nicht schlecht. Hier sind Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Unternehmen zu generieren, die man mit Technik oder Marketing fast nicht mehr erreichen kann. Viele Firmen sind ohnehin hoch aufgerüstet, sehr viel Potenzial gibt es noch bei der Optimierung von Mitarbeitern. Die Schäden und Kosten können ganze Unternehmen gefährden, wenn Mitarbeiter starke Leistungsbeeinträchtigungen aufweisen, gravierende Fehler machen oder oftmals ausgewechselt werden. Gewaltige Summen sind hier im Spiel.

Auch Firmenchefs haben oft wenig Ahnung von Zusammenhängen, etwa zwischen Druck auf Mitarbeiter ausüben, Leute runtermachen, keine Anerkennung geben und wie sehr das die Leistung, die Produktivität senkt. Wenn der Stresspegel zu hoch ist, ist man unkontrolliert, nicht mehr richtig funktionsfähig. Konzentration und Kreativität sind beim Teufel.  Erschreckend sind neue Untersuchungsergebnisse, wonach sich Hirnregionen nach lange anhaltendem Stress so nachhaltig verändern, dass es irreparable Schäden gibt. Bis jetzt hat man geglaubt, dass man sich nach einem Burnout wieder regeneriert. Also vorbeugen, das ist am einfachsten, gesündesten und billigsten – für alle Beteiligten. (Oliver Mark, derStandard.at, 19.3.2013)