Chemiker von der Universität Innsbruck haben erstmals ein funktionsfähiges Antivitamin B12 hergestellt. Die neue Verbindung ist in der Lage, funktionellen Vitamin B12-Mangel im tierischen Stoffwechselsystem hervorzurufen, was für die Untersuchung des Einflusses von B12 auf Erkrankungen des Nervensystems bedeutsam ist. Die Forscher stellten ihre Ergebnisse im Fachjournal "Angewandte Chemie" vor.

Ein Mangel an Vitamin B12 verursacht nicht nur die "perniziöse Anämie" (bösartige Blutarmut), sondern ist auch für degenerative Schäden des peripheren und zentralen Nervensystems verantwortlich. Das vermutlich physiologisch nicht selbst aktive Vitamin B12 wird im menschlichen und tierischen Stoffwechsel zunächst in zwei lebenswichtige B12-Cofaktoren umgewandelt, wie in das Coenzym B12.

"In den letzten Jahren zeigten wissenschaftliche Studien erstmals einen kausalen Zusammenhang zwischen B12-Mangel und der Entstehung von Plaques", erklärt Bernhard Kräutler vom Institut für Organische Chemie und dem Zentrum für Molekulare Biowissenschaften (CMBI). Plaques sind gefährliche Ablagerungen im Gehirn, die zum Beispiel bei der Alzheimerschen Erkrankung in hohem Maß vorkommen. Die Rolle von B12 bei der Entstehung dieser Plaques ist jedoch auf molekularem Niveau noch unerforscht. Das liegt auch daran, daß dieser Effekt des B12-Mangels in Tiermodellen noch schlecht untersucht ist und B12-Mangel in Labormäusen bisher üblicherweise durch die operative Entfernung des Magen-Darm-Traktes verursacht wurde.

Eine innovative Alternative dazu hat Bernhard Kräutler gemeinsam mit seinem Doktoranden Markus Ruetz entwickelt. Die neue von ihnen synthetisierte organometallische Verbindung ist das 4-Ethylphenylcobalamin (EtPhCbl) und wird von den Forschern als Antivitamin B12 oder verriegeltes Vitamin B12 bezeichnet. Der Grund: EtPhCbl ist Vitamin B12 strukturell sehr ähnlich, es kann im Stoffwechsel aufgenommen, aber nicht in die lebenswichtigen B12-Cofaktoren umgewandelt werden, weil der kritische Teil des Moleküls, der bei der metabolischen Verarbeitung reagieren sollte, "verriegelt" ist. So wird ein funktionaler B12-Mangel im Stoffwechselsystem erzeugt.

Organische Radikale unter Kontrolle

Die Verriegelung gelang Kräutler und Markus Ruetz auf ungewöhnliche Weise, nämlich durch eine Reaktion von B12 mit einem Radikal. "Normalerweise werden organische Radikale nur ungern in der Synthese eingesetzt, weil sie als unkontrollierbar gelten", schildert Ruetz. Für die Herstellung von Antivitamin B12 wurde mit dem 4-Ethylphenyl-Radikal jedoch ein besonders reaktionsfreudiges Radikal zur "Verriegelung" eingesetzt.

"Die große Herausforderung war es, Reaktionsbedingungen zu schaffen, um das verwendete Radikal zu zähmen", erklärt Ruetz. Das ist den Forschern gelungen. Das Antivitamin B12 wird von Kooperationspartnern in Dänemark bereits mit Erfolg in Mäusen getestet. Parallel arbeitet man am Institut für Organische Chemie an seiner strukturellen Optimierung. "Wir kennen die dreidimensionale Struktur von Schlüsselenzymen und sehen Verbesserungspotenzial betreffend der Affinität des Antivitamins B12 für sie", sagt Kräutler und verweist einmal mehr auf den möglichen Bedarf an Antivitamin B12 in der medizinischen Forschung.

Einzelne Antivitamine haben übrigens ein wichtiges medizinisches Potenzial, wie das Beispiel von "Antivitamin" K verdeutlicht: Vitamin K ist an der Blutgerinnung maßgeblich beteiligt. Antivitamine K werden eingesetzt, um die Blutgerinnung zur verlangsamen, was bei der Thrombosevorbeugung essenziell sein kann. "Beim ‚Antivitamin' B12 sind wir von einer konkreten medizinischen Anwendung natürlich noch weit entfernt, aber ausgeschlossen ist sie nicht", so Kräutler. (red, derstandard.at, 12.03.2013)