Oliver Rathkolb (li.) und Clemens Hellsberg im Gespräch: "Brauner wurde es nicht mehr."

Foto: standard / Andy Urban

Putschist, Spitzel: Helmut Wobisch.

Foto: ÖNB/picturedesk

Aber er glaubt zu wissen, wer Baldur von Schirach 1966 den Ehrenring übergab: ein Trompeter mit unrühmlicher Biographie.

Wien - Aufgrund wiederholter Vorwürfe und eigenartiger Gerüchte beauftragte Clemens Hellsberg, Vorstand der Wiener Philharmoniker, im Jänner die Historiker Oliver Rathkolb, Fritz Trümpi und Bernadette Mayrhofer, die Rolle des Orchesters in der NS-Zeit präzise und systematisch zu durchleuchten. Rathkolb, Professor am Institut für Zeitgeschichte an der Uni Wien, kann bereits erstaunliche Ergebnisse vorlegen.

Eine der zentralen Fragen steht in Zusammenhang mit Baldur von Schirach, ab 1941 Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien. Die Philharmoniker verliehen ihm 1942 den Ehrenring. 1945, nach seiner Verhaftung, nahmen die Amerikaner Schirach den Ring ab. Der Antisemit, der sich rühmte, Wien nahezu "judenfrei" gemacht zu haben, wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung 1966 soll er, berichtete dessen Sohn Richard, den Ehrenring noch einmal von den Philharmonikern erhalten haben - überbracht von einem "Emissär".

Hellsberg versicherte, dass es in den Protokollen keinen Hinweis auf eine Zustimmung in der Hauptversammlung gibt, die eine Grundvoraussetzung für eine Ehrung ist. Er vertrat daher die Meinung, "dass diese Überreichung eine private Aktion war".

Richard von Schirach weigerte sich jedoch, den Namen des Überbringers zu nennen. Gerüchteweise wurde der Dirigent und Komponist Wilhelm Jerger genannt. Das NSDAP-Mitglied seit 1932 war ab 1938 "kommissarischer Leiter" und ab Ende 1939 Vorstand der Philharmoniker. Nach dem Krieg wurde Jerger seines Postens enthoben. Er kehrte nicht mehr zu den Philharmonikern zurück, kommt als "Emissär" daher kaum infrage.

Zudem erhielt Rathkolb vom Journalisten Wilhelm Bettelheim den Hinweis, dass der Überbringer Helmut Wobisch gewesen sei. Der Zeitgeschichtler kam nach vielen Recherchen zum Schluss: "Für mich ist der Bericht von Bettelheim sehr glaubwürdig."

Der Solotrompeter Helmut Wobisch wurde 1939 in den Verein der Philharmoniker aufgenommen. "Er war einer jener vier Musiker, die 1945 sofort entlassen wurden", so Rathkolb, "denn Wobisch war ein illegaler Nationalsozialist, der als SS-Mann am Juliputsch 1934 teilgenommen hat. Er berichtet in seinem SS-Lebenslauf, dass er sich damals in unmittelbarer Nähe des Bundeskanzleramtes befand. Und im Sonderarchiv in Moskau wurden Spitzelberichte gefunden, die er über Musiker geschrieben hat."

Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es Wobisch, seine Teilnahme am Putsch, bei dem Kanzler Engelbert Dollfuß ermordet wurde, gegenüber Bundespräsident Theodor Körner derart zu verharmlosen, dass er amnestiert wurde. Rathkolb: "Er gab an, der Juliputsch-Vorwurf stimme nicht, das habe bereits eine Kommission bestätigt. Und dann machte er etwas, das ich besonders perfide finde: Er behauptete in seinem Appell an Körner, er habe Mitglieder mit jüdischen Frauen oder 'Halbjuden' im Orchester gehalten. Das war ihm aber gar nicht möglich. Der, der sich wirklich eingesetzt hat, war Wilhelm Jerger. Seine Briefe, die wir jetzt gefunden haben, dokumentieren dies. Die Präsidentschaftskanzlei war in der Nachkriegszeit aber eine Persilschein-Fabrik", so Rathkolb. Aufgrund der erfolgten Amnestierung konnte Wobisch 1953 Geschäftsführer der Philharmoniker werden. Er blieb dies bis 1969.

Auch für Hellsberg ist Wobisch der plausible Überbringer: "Als Geschäftsführer konnte er von Schirach als Emissär angesehen werden." Wobisch wusste, welcher Juwelier die Ringe anfertigte. Oder er gab seinen eigenen Ring weiter. Denn nach 25-jähriger Zugehörigkeit bekommt jeder Philharmoniker einen solchen.

Die Erkenntnisse von Rathkolb müssten auch Auswirkungen auf den Carinthischen Sommer haben. Das Ossiacher Festival wurde 1969 von Wobisch mitbegründet. Auf der Homepage verschweigt man dezent die unrühmliche Biografie des Trompeters.

Fast jeder Zweite ein Nazi

Doch was ist mit den Vorwürfen von Harald Walser, dem Bildungssprecher der Grünen? Hat Hellsberg Materialien zurückbehalten, die beweisen, dass die Philharmoniker brauner waren als bisher dargestellt? "Da muss ich Walser enttäuschen", sagt Rathkolb. "Ich beschäftigte mich mit dem Kapitel Nazifizierung und Entnazifizierung. Hellsberg hatte mit seiner Schätzung über den Anteil der Nazis unter den Philharmonikern recht. Ich war früher zu einem Anteil von 42 Prozent gekommen, Hellsberg kam auf 47 Prozent. Ich habe nun wirklich alle Mitgliedskarteien prüfen lassen, alle Fragebögen ausgewertet und komme auf einen minimal höheren Anteil, knapp unter 50 Prozent. Also: Brauner wurde es nicht mehr."

Rathkolb interessiert sich vor allen für die Motive der Musiker. "Da gibt es die gesamte Palette, den Spitzel Wobisch genauso wie den SS-Mann Jerger, der für die jüdischen Kollegen interveniert - und es gibt auch einen Paul Dengler, der seine jüdische Freundin schützen will, daher Mitglied der NSDAP wird - und es wirklich schafft, sie als U-Boot durch den Krieg zu bringen. Was schon Simon Wiesenthal deutlich gemacht hat: Man muss jeden Fall genau prüfen. Es kann ein NSDAP-Mitglied couragierter gewesen sein als ein Nichtmitglied, das einfach zugeschaut hat." Mit den aus diversen Archiven zusammengetragenen Materialien sei nun eine differenziertere Analyse möglich.

Machte man auch im Archiv der Philharmoniker eine epochale Entdeckung? Rathkolb verneint. Aber in einem Notenkeller unter der Staatsoper wurde das Abonnentenbuch gefunden. "Unter den Abonnenten gab es bis 1938 einen hohen Anteil an jüdischem Bildungsbürgertum. Das erklärt auch, warum es nach dem Anschluss massive finanzielle Einbußen gab. Eben weil ein guter Teil des Publikums und der Mäzene weggefallen ist."

Die "gewaltsame Reduzierung des Publikums", so Hellsberg, und die damit verbundenen Einnahmeausfälle versuchten die Nationalsozialisten durch kleine, sogenannte "50-Reichsmark-Mitgliedschaften" zu kompensieren. Aber dies sei nicht gelungen.

Kein Auftrag aus Berlin

Und was ist mit dem Neujahrskonzert, das erstmals am 31. Dezember 1939 stattfand? War es eine Propagandaveranstaltung der Nationalsozialisten - oder nur die Fortsetzung einer Tradition, die der Dirigent Clemens Krauss, begründet hatte, wie Hellsbergs Argumentation lautet?

Rathkolb: "Ich war zunächst skeptisch, ob Krauss wirklich der Initiator war. Aber wir haben die Korrespondenz und Verträge der Philharmoniker mit dem Reichsrundfunk von 1939 bis 1944 gefunden. Das Johann-Strauß-Konzert - den Namen Neujahrskonzert gab es noch nicht - war einfach Teil einer Konzertserie, die der Reichsrundfunk übertragen hat. Und der Auftrag zu diesem Konzert kam nicht aus Berlin." Dass Krauss der Mentor war, bestätigt auch eine Repertoireanalyse: Die Philharmoniker spielten Johann Strauß erst ab 1929, als Krauss Musikdirektor der Staatsoper wurde. Und sie hörten knapp vor 1935 damit auf, als er an die Berliner Staatsoper wechselte.  (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 11.3.2013)