Lesen und schreiben: Jean Paul (1763-1825) las kreuz und quer. Bücher aus allen Bereichen. (...) Bis zum Ende seines Lebens wuchsen seine Notizhefte auf 12.000 Seiten an. Um sie sich verfügbar zu machen, erstellte er Register und Register zu Registern.

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Ein Gespräch zum 250. Geburtstag des Dichters.

Hesperus, Quintus Fixlein, Siebenkäs, Flegeljahre, Titan - das literarische Werk von Jean Paul ist gewaltig. Hinzu kommen Exzerpthefte, handschriftlichen Notizen für künftige Bücher und seine Briefe. Dem Schreiben ordnete er alles andere unter. Noch bevor der am 21. März 1763 in Wunsiedel geborene Johann Paul Friedrich Richter sich den Namen Jean Paul gab, war dieser eine literarische Figur in einem Roman. Anlässlich des 250. Geburtstages des Dichters schildert der Literaturwissenschafter Helmut Pfotenhauer in seiner Biografie Jean Paul. Das Leben als Schreiben dieses Schreibleben.

STANDARD: Sie habe eine Bibliografie und keine Biografie, betont die Dichterin Friederike Mayröcker von sich. Gilt das auch für Jean Paul?

Pfotenhauer:  Alles in diesem Leben war Schreiben, Bücherschreiben. Alles in diesem Leben wurde funktional für das Schreiben gemacht. In dieser Radikalität, in dieser Ausschließlichkeit dürfte Jean Paul singulär sein in der deutschen Literatur. Oft wisse er kaum, was er eigentlich aus sich machen solle als Bücher, notierte er an einer Stelle. Selbst wenn er eine Liebesbeziehung einging, diente sie dazu, der Dame Briefe schreiben zu können. Und diese Briefe sind Werke. Jean Pauls Briefe gehören zum Kunstvollsten, was es in dieser Gattung in der deutschen Literatur gibt.

STANDARD:  Sie interpretieren diese Schreibbesessenheit als Versuch, gegen die Sterblichkeit anzuschreiben. Würden Sie das als Sinn seiner Schriftstellerexistenz bezeichnen?

Pfotenhauer:  Es ist das Grundmotiv von Jean Pauls Schreiben. Man muss sich das biografisch vergegenwärtigen: Jean Paul wurde in einen Pfarrhaushalt hineingeboren. Von Anfang an wurde er mit Fragen der Sterblichkeit und des Lebens nach dem Tod konfrontiert. Die anfängliche Glaubensgewissheit wandelte sich in zunehmende Ungewissheit. Eine Unsterblichkeit der Seele war für ihn nicht mehr verbürgt. Er suchte sie sich durch Schreiben zu erwerben. Dazu gehörte sein Bestreben, das Leben vorausschreiben zu wollen. In seiner Konjekturalbiographie schildert er, wie sein zukünftiges Leben und sogar sein Tod aussehen werden. Schreiben ermöglicht ein Nachleben. Das ist ein waghalsiges Projekt und ein problematisches. Jean Paul konnte nie aufhören zu schreiben. Er kam nie ans Ende.

STANDARD:  Um geistige Höchstleistungen zu erbringen, trank er sein Leben lang Alkohol. Entstand sein literarisches Oeuvre im Drogenrausch?

Pfotenhauer:  Teilweise. Nicht sein ganzes Schaffen war von Alkohol begleitet. Etwa von 1798/99 an trank er regelmäßig. Es war kein Alkoholismus herkömmlicher Art, sondern wie alles in seinem Leben setzte er auch das Trinken strategisch ein zur Befeuerung seines Schreibens. Bereits am frühen Morgen begann er mit Wein. Dann trank er große Mengen von Kaffee. Und zeitweilig nahm er Laudanum, eine Art Opium. Abends, wenn er aufhörte zu schreiben, trank er kaum mehr.

STANDARD:  Bewusste und forcierte Unzeitgemäßheit habe Jean Pauls Auftreten in der Literaturlandschaft der damaligen Zeit ausgemacht, schreiben Sie. War er ein Außenseiter oder ein Neuerer?

Pfotenhauer:  Beides. Und dadurch wurde er zu einem literarischen Star seiner Zeit. Die Leser horchten auf, als sie sahen, dass da etwas ganz Neues kommt. Jean Paul steht zwischen dem Weimarer Klassizismus und der Jenaer Romantik. Aber er lässt sich von keiner Strömung vereinnahmen.

STANDARD: Bemerkenswert ist Jean Pauls Art des Erzählens. Hat er die Auflösung der Form vorweggenommen, wie sie erst im 20. Jahrhundert von Schriftstellern vollzogen wurde?

Pfotenhauer:  Für Jean Paul ist die Geschichte vom Anfang bis zum Ende nebensächlich. Sie ist nur Aufhänger für Reflexionen, große Szenen und große Charaktere. Seine Romane setzt er immer neu aus Bausteinen zusammen, die er in seinen ungeheuren Sammlungen von Ideenwürfeln und Gedankenblitzen gespeichert hat. Mit diesem nichtlinearen Erzählen, das ständig das Erzählen selbst reflektiert, ist er durchaus ein Vorbereiter des modernen Romans.

STANDARD:  In dem Zusammenhang gehört auch sein freier Umgang mit der Sprache. "Schwelgereien", zitieren Sie ihn, Sprachentfesselung nennen Sie es. War Paul ein experimenteller Schriftsteller?

Pfotenhauer:  Unbedingt. Er suchte nach neuen Möglichkeiten, sich sprachlich auszudrücken, und ist wohl der Autor, der die meisten Wortneuschöpfungen zustande gebracht hat. Eine Sammlung davon findet man bei Goethe in den "Noten und Abhandlungen" zum West-östlichen Divan. Da ist eine Reihe von den damals unerhörten Worten aus dem Hesperus aufgelistet. Einige davon sind mittlerweile in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen wie etwa das Wort "Schmutzfink". Jean Paul drängte in seinen Metaphern und witzigen Wortvergleichen die unterschiedlichsten Wissensbereiche zusammen. Das kann man im Grimm' schen Wörterbuch nachlesen. Jacob Grimm war ein passionierter Leser Jean Pauls.

STANDARD: Ganz eigen war Jean Pauls Humor. War das der Humor eines Satirikers?

Pfotenhauer:  Nein. Der Satiriker verlacht. Er betrachtet die Welt von oben herab in ihrer Narrheit. Jean Paul war die ersten 15 Jahre seines Schreibens vor allem Satiriker. Um 1790 aber kam er zum Roman. Und der Humor in seinen Romanen ist ganz anders. Es ist eine bittere Art des Komischen. Dieser Humor besitzt einen metaphysischen Charakter und ist ein grundsätzliches Leiden an der Unzulänglichkeit der Welt. Ein gequältes Lachen zeichnet diesen Humor aus.

STANDARD:  Henning Ritter behauptete einmal, dass Jean Paul ein Platz in jeder Philosophiegeschichte zustehe. Tatsächlich wurde er als Philosoph lange Zeit nicht recht ernst genommen. Hat sich diese Einschätzung geändert?

Pfotenhauer:  Jean Paul wird heute als Philosoph sehr viel ernster genommen, aber als Philosoph sui generis, als Philosoph im aphoristischen, essayistischen Sinne. Seine Ästhetik, die die erste große Ästhetik der deutschen Philosophiegeschichte ist, nennt er denn auch "Vorschule der Ästhetik". Sie bietet eine Einführung in Form von witzigen Einfällen und Vergleichen und wurde selbst von Hegel gewürdigt, der ihm 1817 in Heidelberg die Ehrendoktorwürde verlieh. Mit Fichte führte Jean Paul heftige Auseinandersetzungen, woraus seine satirische Schrift über Fichtes Philosophie entstand, die Clavis fichtiana, also der Schlüssel zur Philosophie Fichtes. Auch Schelling lieferte sich über Jahrzehnte hinweg Dispute mit ihm. Noch kurz vor seinem Tod kam er nach Bayreuth. Jean Paul notierte anschließend in einem Brief: "Schelling war da. Vier Stunden Krieg."

STANDARD:  Jean Pauls Bücher seien aus Büchern gemacht, schreiben Sie und verweisen auf seine unglaubliche Belesenheit. Zugleich geben Sie die merkwürdige Beobachtung wieder, dass er von wenigen oder gar keinen Büchern umgeben war. Stattdessen hatte er Berge von Exzerptheften. Was exzerpierte er?

Pfotenhauer:  Alles. Er las kreuz und quer. Bücher aus allen Bereichen - von der Literatur über die Philosophie und Theologie bis zur Anthropologie und den Naturwissenschaften, einschließlich Reiseberichten - wurden von ihm exzerpiert. Bis zum Ende seines Lebens wuchsen seine Notizhefte auf 12.000 Seiten an. Um sie sich verfügbar zu machen, erstellte er Register und Register zu Registern. Wenn er verreiste, gab er seiner Familie die Anweisung, bei Feuer zuerst seine Exzerpthefte zu retten. Ebenso wichtig waren ihm seine Ideensammlungen. Die hatte er ebenfalls in seinem Repositorium stehen. Das waren Gedankenblitze, Einfälle und Bausteine für zukünftige Werke. All die Schätze, die er für sein Schreiben sammelte, umfassten am Ende seines Lebens zirka 40.000 Seiten. Sie sind im handschriftlichen Nachlass überliefert.

STANDARD:  Zu seiner Zeit war Jean Paul einer der erfolgreichsten Schriftsteller. Aber wird er heute noch gelesen?

Pfotenhauer:  Er wird sehr viel gelesen. Und er ist hochaktuell unter den Schriftstellern. Insbesondere Arno Schmidt, Günter Grass, Martin Walser, Navid Kermani, Walter Kappacher oder Brigitte Kronauer berufen sich immer wieder auf ihn. Das hat mit der Modernität seines Schaffens zu tun. Viele Schriftsteller finden ihr eigenes Denken über Literatur in Jean Paul präfiguriert. Kermani sagte einmal, er übertreffe alles, was heute als postmodern gelte. Es sei bei ihm nicht nur alles schon da, sondern wird noch überboten.

STANDARD:  Welches seiner Bücher eignet sich aus Ihrer Sicht zum Einstieg in sein Werk?

Pfotenhauer:  Ich würde raten, mit der Selberlebensbeschreibung, also dem Fragment seiner Autobiografie, zu beginnen. Die ist leicht und vergnüglich zu lesen. Auch Das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz, das der Unsichtbaren Loge angehängt ist, eignet sich gut zur Einführung. Fortgeschrittenen Jean-Paul-Lesern empfehle ich Flegeljahre, Dr. Katzenbergers Badereise und Leben Fibels, eines meiner Lieblingsbücher.

STANDARD:  Und Titan, Jean Pauls tausendseitiger "Kardinalroman"?

Pfotenhauer: Daran sollte man sich erst wagen, wenn man einiges von ihm gelesen hat und auf alles gefasst ist. Der Titan ist nicht nur ein langer, sondern auch ein schwer zu lesender Roman. Aber er besitzt wunderschöne Stellen. Denken Sie nur an die großen Naturschilderungen. Jean Paul war nie in Italien. Das empfand er aber nicht als Nachteil. Vielmehr vertrat er die Überzeugung, Landschaften könne man nur beschreiben, wenn man sie nie gesehen habe. Der Dichter müsse sie sprachlich nachschaffen und dürfe sie nicht einfach abmalen. Die Sprachmusik in den Naturschilderungen ist auch heute wieder zu entdecken. Stefan George nannte Jean Paul einen musikalischen Dichter. Es gibt keinen Autor, der so bilderreich schreibt und bei dem wie bei einem musikalischen Akkord alles ineinander übergeht und alles ineinander verschwimmt und dadurch eine Suggestion von Gleichzeitigkeit in der Sprache entsteht, die an die Grenze des Sprachlichen führt. Das sind Sprachabenteuer, die auch der heutige Leser nachvollziehen kann.   (Adelbert Reif, Album, DER STANDARD, 9./10.2.2013)