Wien - Im Moll-Mittelteil des zweiten Satzes seiner Es-Dur-Sonate (Hob. XVI:49) macht Haydn etwas Unerhörtes: Eine Hand bildet einen harfenartigen Klangteppich, die andere entspinnt einen schmachtenden Sehnsuchtsdialog von fast Schubert'schen Dimensionen.

Ganz ähnliche Passagen gibt es auch in dessen f-Moll-Impromptus D 935/1; und einiges sprach dafür, dass Jewgenij Kissin bei seinem Soloabend im Musikverein solche Zusammenhänge absichtsvoll hergestellt hat. Skrupulös und behände, mit Schnellkraft und Spielwitz widmete er sich bei Haydn einer Versöhnung des massiven Steinway-Klangs und den vorgeschriebenen artikulatorischen Feinheiten: ein lebendiger Kompromiss, doch ohne je einen solchen Geruch auszustrahlen.

Die Kraft der Zwischentöne

Bei Schuberts Impromptus (D 935/1 und 2; D 899/3 und 4 - eine ebenfalls aufschlussreiche Kombination!) verband er einen ähnlich kraftvollen, bei diesen Stücken selten gehörten virtuosen Zugriff mit leiser Nachdenklichkeit und abgrundtiefen Akzenten.

Beethovens schwergewichtige c-Moll-Sonate op. 111 schien Kissin in ihrer Gesamtheit hypnotisch zu beherrschen. Hier wie überhaupt ging von seinem Spiel eine gewisse Strenge und absolute Kontrolle aus, die bei ihm aber erst die Voraussetzung für tiefere Dimensionen bildet.

Regelrecht ausgelotet wurden Beethovens Schroffheit im ersten und die scheinbare Leichtigkeit im zweiten Satz - eine Wiedergabe wie aus einem Guss und doch voller spontan wirkender Momente. Ähnlich souverän und doppelsinnig verfügte Kissin schließlich auch über Liszts Ungarische Rhapsodie cis-Moll ("Mazeppa") , deren schlichten Stellen er eine ebensolche Tiefe verlieh wie jenen Passagen, die oft wie blindes Laufwerk daherkommen.

Standing Ovations und Blumen folgten drei Zugaben (Gluck/ Sgambati; Liszt; Schubert/Liszt) - und zuletzt doch noch ein ansatzweises Lächeln des Pianisten, der sonst in seinem Habitus - nicht in seinem Spiel! - menschliche Regung allenfalls in homöopathischer Dosierung zeigt.  (Daniel Ender, DER STANDARD, 9./10.3.2013)