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Sich das Chaos organisieren ist, frei nach Nietzsche, die Kunst des Twitterns.

Foto: REUTERS/Noah Berger

Der passionierte Twitterer kann hier die Lektüre beenden. Er weiß, wofür er Twitter braucht und hat das Thema schon 2009 abgehandelt. Doch er gehört zu einer Minderheit. Ein paar Denkanstöße als Entscheidungshilfe für die Mehrheit.

In Österreich gibt es rund 100.000 Twitter Accounts, nur etwas mehr als die Hälfte davon wird aktiv genutzt. Eine Größenordnung im Nullkomma-Bereich der Gesamtbevölkerung. Von den rund 7.000 Journalisten und Journalistinnen (laut Journalisten-Report) sind - mit einer Liste von APA-OTS als Referenz - vielleicht fünf bis zehn Prozent auf Twitter.

Die anderen haben ein schlechtes Gewissen. Sie sollten doch eigentlich. Mehr Social Media. Facebook geht ja noch. Aber Twitter. 140 Zeichen. Das kann nichts Gscheites werden. Und wieviel Zeit das kostet.

Wozu Twitter?

Für all jene, die diese Überlegungen anstellen: Twitter kann ein hervorragendes Werkzeug für Journalistinnen und Journalisten sein. In allen Phasen des Produktionsprozesses.

Ein Werkzeug zur Themenfindung, das hilft, Communities zu beobachten. Zu sehen, worüber potentielle Leser und Leserinnen diskutieren. Meine natürlich über - Twitter, kürzlich anlässlich einer Twitter-und-Public-Service-Studie von ORF-Journalistin Nadja Hahn. Beachte: Auf Twitter führen echte Menschen echte Gespräche. Und setzen Themen oft Tage oder Wochen, bevor sie auf den Medienplattformen groß werden. Da ist auch leicht herauszufinden, was andernorts gerade Trending Topics sind.

Twitter ist eine Nachrichtenagentur. Schon weiß man, dass der Papst zurücktritt. Hätte das berühmte Foto von der Flugzeuglandung im Hudson am Screen gehabt. Einfach den richtigen Menschen und Medien folgen und Ereignisse, Links, Gesprächspartner frei Haus geliefert bekommen. Auch zu Nischenthemen. Natürlich ist die Nachrichtenagentur nur so gut wie die Auswahl der Leute, denen man folgt.

Twitter ist auch Klatsch und Tratsch. Twitter-Netzwerke machen Spaß, sind ein gefährlicher Zeitfresser wie jedes Schmähführen, aber bringen auch neue Verbindungen. Aus denen schon das eine oder andere Kind im metaphorischen und wörtlichen Sinn hervorgegangen sein soll. Eine Twitter-Community zu haben, hat viele Vorteile. Man gewinnt Glaubwürdigkeit. Man kann nachfragen. Man kann bei aktuellen Ereignissen Zeugen und Quellen über Advanced Search suchen. Oder auch einfach "den Kärntner Wechselwähler" finden.

Und Twitter ist Thema, Tweets werden Zitate. Ein aktuelles österreichisches Beispiel: Die ORF-Doku "Am Anfang war das Licht" aka #lichtnahrung war Anlass für ein ORF-kritisches Twittergewitter - das sich wiederum in der Berichterstattung niederschlug. In Kombination mit Datenjournalismus-Techniken können auch aufwändigere Geschichten entstehen. Vielzitiert etwa, wie der Guardian die Verbreitung von Gerüchten während der London Riots visualisiert hat.

Recherche – Aufbereitung – Thematisierung – Communitybuilding – und dann ist Twitter noch das Tool, um eigene Geschichten anzukündigen oder, besser noch, zum richtigen Zeitpunkt in die Diskussion einzubringen. (Dafür gibt es eigene Dienste wie etwa Socialflow.) Zugriffe auf Nachrichtenseiten via Twitter steigen kontinuierlich.

Warum nicht Twitter?

Freilich: Allzu schnell lenkt dieser unendliche Kommunikationsstrom ab, plötzlich findet man sich wieder in Themen und Kommunikationen, die man gar nicht führen wollte. Klebt am Handy. Macht Twittern zur Hauptbeschäftigung. Aber das ist keine Frage des Kommunikationskanals, sondern eine der Selbstdisziplin. Wie heißt es in Friedrich Nietzsches unzeitgemäßer Betrachtung "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben"? "Dies ist ein Gleichnis für jeden einzelnen von uns: er muss das Chaos in sich organisieren, dadurch, dass er sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt." (Daniela Kraus, derStandard.at, 8.3.2013)