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Chávez-Graffiti an einer Mauer in Caracas. Der am Mittwoch verstorbene Präsident könnte noch länger das politische Schicksal des Landes bestimmen.

Foto: REUTERS/Carlos Garcia Rawlins

Nach dem Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez wird ihm aller Voraussicht nach sein Stellvertreter Vize Nicolas Maduro im Amt nachfolgen. Gewählt wird innerhalb der nächsten 30 Tage. Der Politikwissenschaftler Nikolaus Werz von der Universität Rostock vermutet eine Mythenbildung rund um den verstorbenen Präsidenten, die dem Peronismus in Argentinien ähneln wird.

derStandard.at: Was wird denn als Chávez' Erbe in die Geschichtsbücher eingehen?

Werz: Möglicherweise wird der Chávismus in Venezuela die Rolle einnehmen, die der Peronismus (populistische Bewegung, nach dem ehemaligen Präsidenten Juan Perón benannt, Anm.) in Argentinien innehat. Das heißt, dass eine Konfliktline entsteht, ohne die man in der Praxis schwer regieren kann. Wenn der Mythos Chávez sich in Venezuela so festigen kann wie der von Perón in Argentinien, dann ist seine Amtszeit ein markanter Einschnitt gewesen.

derStandard.at: Gehen Sie davon aus, dass sich dieser Mythos festsetzt? Gibt es Faktoren, die das beeinflussen können?

Werz: Sowohl die Chávisten als auch die Opposition werden versuchen, diesen Mythos zu verwalten. Das hat man auch schon in den vergangenen Monaten gesehen. Parolen wie "Der Kampf für das Leben", "Wir sind alle Chávez" und auch Chávez' schon früh getätigte Aussage "Ich bin nicht ich, ich bin das Volk" befördern den Mythos, und gerade in den ärmeren Bevölkerungsschichten wird er ohnehin geteilt.

derStandard.at: Wie sehen Sie den möglichen Nachfolger Nicolas Maduro?

Werz: Maduro ist im Grunde die Fortführung des Chavismus ohne Chávez. Maduro ist auch der Lieblingskandidat der Kubaner. Sein Erfolg wird davon abhängen, ob es im Chavismus Spannungen gibt. Möglicherweise mit dem eher nationalistischen Flügel von Diosdado Cabello, dem Präsidenten des Kongresses, oder auch mit der Chávez-Familie, wenn die sich als Nachlassverwalterin des Erbes einbringen möchte. Solange der Ölpreis hoch bleibt, sind diese Spannungen aber zu überdecken.

derStandard.at: Also erst wenn das Geld ausgeht, werden die Konfliktlinien sichtbar?

Werz: Es wird auch darum gehen, ob Venezuela die milliardenschweren Unterstützungszahlungen an Kuba weiterhin leisten wird. Das kann zum Thema innenpolitischer Diskussionen werden. Aber wenn sich Maduro durchsetzt, wird es zunächst keine Veränderung der Beziehung beider Länder zueinander geben.

derStandard.at: Wie relevant sind die Chávez-Kritiker? Haben sie Chancen, die Präsidentenwahl zu gewinnen?

Werz: Es gibt vor allem in der Mittelschicht große Vorbehalte oder auch Gegnerschaft zu Chávez. Im anstehenden Wahlkampf wird Henrique Capriles, der voraussichtliche Spitzenkandidat der Opposition, sehr vorsichtig agieren. Möglicherweise wird erst in einigen Jahren eine nüchternere Betrachtung der Amtszeit von Chávez möglich sein. Auch die Frage, was mit den Einnahmen aus dem Ölgeschäft passiert, wird jetzt noch nicht diskutiert werden.

derStandard.at: Chávez war nicht nur Staatschef von Venezuela, sondern auch die Galionsfigur der Linken in Lateinamerika. Wer könnte ihm in dieser Rolle nachfolgen?

Werz: Eventuell Rafael Correa, der Präsident von Ecuador. Er steht zwar manchmal im Schatten der Popularität des Bolivianers Evo Morales, aber er führt eine vergleichsweise erfolgreiche Regierung. Er hat vieles von Chávez abgeschaut, und Ecuador hat auch Öl. Aber: Es ist natürlich ein kleineres Land und bleibt hinter den Einnahmen Venezuelas zurück.

Neben der echten Bewunderung, die es natürlich auch für Chávez gab, hat auch der volle Gabenteller Venezuelas eine Rolle gespielt: Hugo Chávez hatte etwas zu verteilen. Derzeit ist kein anderes Land in Lateinamerika in der Lage oder gewillt, diese Rolle zu übernehmen.

derStandard.at: Was könnte sich am Verhältnis zu den USA ändern? Obama redet schon von einem neuen Kapitel der Beziehungen.

Werz: Kurz vor dem Tod Chávez' hat sich der Ton noch einmal verschärft weil ein US-Militärattaché ausgewiesen wurde. An sich ist es eine eigenartige Situation: Da hat man eine selbst ernannte bolivarische Revolution, die sich aus von den USA kommenden Öleinnahmen speist.

Der Anti-Nordamerikanismus ist in Lateinamerika auch immer ein Mittel der Herrschaftsstablisierung gewesen. Bevor Chávez kam, waren die USA der engste Verbündete Venezuelas. Da hat eine rasante und auch ein wenig verquere Veränderung stattgefunden. Wahrscheinlich wird es nun eine leichte Normalisierung geben. Es hat ja schon vor einigen Monaten Gespräche über drei Ecken mit Maduro gegeben. Das wäre auch kein großer Stilbruch, denn die Leute kritisieren die USA politisch, orientieren sich aber kulturell in manchen Aspekten an Miami.

derStandard.at: Wäre eine frühere Amtsübergabe an Maduro besser gewesen? Hat die Weigerung, das Amt abzugeben, Chávez geschadet?

Werz: Persönlich hat es ihm wahrscheinlich geschadet. Chávez hat schon seit Jahren sehr wenig Rücksicht auf seine Gesundheit genommen: Er hat viel Kaffee getrunken, hat wenig geschlafen, war hyperaktiv. Warum hat er nicht gesagt, dass er krank ist? Zum einen hat er möglicherweise an Selbstüberschätzung gelitten, diese Gefahr besteht, wenn man von Jasagern umgeben ist. Andererseits hat er mit dieser Strategie einen hohen Wahlsieg eingefahren. Das hätte Maduro oder ein anderer Nachfolger wahrscheinlich nicht geschafft. Er hat so versucht, die Grundlagen für einen Chávismus ohne Chávez zu legen.

derStandard.at: Das Militär wurde kurz nach Chávez' Tod mobilisiert, nach Eigenangaben, um "das Volk zu schützen und den Frieden zu garantieren". Sind Unruhen zu erwarten oder könnte das Militär politische Macht anstreben?

Werz: Das Militär hat jetzt schon politische Macht. Die Hälfte der 22 Gouverneure haben einen militärischen Hintergrund. Allerdings: Nicolás Maduro kommt nicht aus dem Militär. Er sprach in seiner Rede am Dienstag auch von "Einheit und Ordnung". Damit meinte er möglicherweise auch das Militär. Die Unbekannte ist, ob sich das Militär mit Maduro abfinden wird. Derzeit spricht allerdings nichts dagegen. (Michaela Kampl, derStandard.at, 6.3.2013)