Orang-Utan bedeutet in der malaiischen Sprache "Mensch aus dem Wald", doch genau genommen sind die Regenwaldbewohner mit rot-braunem Fell unsere entferntesten Verwandten in der Familie der Menschenaffen. Sie unterscheiden sich von allen anderen, weil Orang-Utan-Männchen zwei unterschiedliche Entwicklungsstufen durchlaufen können und dadurch in zweierlei Typen vorkommen: Die Kleinen gleichen äußerlich den Weibchen, die Großen bilden sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Wangenwülste und Kehlsäcke aus. Nun haben Wissenschafter festgestellt, dass diese Geschlechtsentwicklung, das Paarungsverhalten und das soziale Gefüge stärker als bisher vermutet von ihrer Umwelt abhängen.
Einige kleine Männchen verharren mehrere Jahre lang oder sogar während ihres ganzen Lebens auf ihrer Entwicklungsstufe, ohne dass der letzte Wachstumsschub einsetzt. Wie die Schweizer Forscherin Lynda Dunkel und ihre Kollegen vom anthropologischen Institut und Museum der Universität Zürich nun nachweisen, kommt dieser Entwicklungsstillstand auf Sumatra öfter vor als auf Borneo, der anderen südostasiatischen Insel, auf der Orang-Utans noch beheimatet sind.
Auf Sumatra machten die Forschenden doppelt so viele kleine Männchen aus als ausgewachsene mit Wangenwülsten. Während der fünfjährigen Beobachtungsphase im Regenwald bildete nur ein einziges Männchen die sekundären Geschlechtsmerkmale aus. Auf Borneo hingegen gibt es zwei Mal mehr Männchen mit Wangenwülsten als ohne.
Nahrungsangebot entscheidet
Diese streiten sich viel öfter um die Gunst der fortpflanzungsfähigen Weibchen als auf Sumatra, wo innerhalb des beobachteten Gebiets ein einziges dominantes Männchen die sexuellen Beziehungen zu den Weibchen monopolisiert. Weil der Urwald auf Sumatra mehr Nahrung hergibt als der Wald auf Borneo, hat das dominante Männchen genügend Zeit, die Weibchen in seiner Umgebung zu bewachen. Andere Männchen mit Wangenwülsten vertreibt er, bevor sie sich mit einem Weibchen paaren können.
Doch kleinere Männchen ohne sekundäre Geschlechtsmerkmale sind unauffälliger. Auf Sumatra gelingt es ihnen deshalb eher, mit einem Weibchen zu kopulieren – auch wenn sich die Weibchen in 60 Prozent der beobachteten Fälle zur Wehr setzten. Erzwungene Paarungen gibt es auch auf Borneo. Doch weil dort die Männchen dauernd gegeneinander kämpfen und sich die kleineren nie durchsetzen, fällt der Vorteil des Entwicklungsstillstandes weg.
Umweltbedingungen formen Sozialverhalten
Dass das Nahrungsvorkommen im Wald sich so stark auf das Paarungsverhalten von Orang-Utans auswirkt, hat Dunkel überrascht. "Es zeigt, dass die Organisation dieser Menschenaffen – und vielleicht auch unserer Vorfahren – variabler ist, als wir bisher angenommen hatten. Anscheinend formt die natürliche Selektion nicht nur das Aussehen, sondern passt auch das Sozialverhalten an die lokalen Umweltbedingungen an", sagt sie. (red, derStandard.at, 10.03.2013)