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Stéphane Hessel, Überlebender des KZ Buchenwald und Bestsellerautor, ist im Alter von 95 Jahren gestorben.

Foto: AFP/JOEL SAGET

Die russische Revolution liegt weit zurück, ebenso der Erste Weltkrieg. Gleich weit reichte das Leben des Stéphane Hessel: Der französische Berufsdiplomat, dessen Ableben seine Frau am Mittwoch bekanntgab, war im Jahre 1917 in Berlin auf die Welt gekommen. Sein Vater, der Schriftsteller Franz Hessel, emigrierte mit seiner Familie vor dem Zweiten Weltkrieg nach Paris. Der Filius wurde Franzose und engagierte sich früh im französischen Widerstand; 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach Buchenwald deportiert. Aber Hessel überlebte nicht nur das KZ, sondern das ganze Jahrhundert. In seinem zweiten Leben arbeitete er für Frankreich als subalterner Diplomat an der Formulierung der Uno-Menschenrechtserklärung mit. Später amtierte er als Botschafter in verschienen Missionen, danach setzte er sich in Paris für soziale Anliegen und Papierlose ein.

Wütendes Pamphlet

Sehr spät, erst im 21. Jahrhundert, begann sein drittes Leben: 2009 gab er einen Essay mit dem Titel „Empört euch!“ heraus. Zuerst in Frankreich, dann in mehr als vier Millionen Exemplaren in 100 Ländern, wurde das dünne Bändchen zur Bibel der Occupy-Bewegung – dank Sätzen wie: „Wir, Veteranen der Widerstandsbewegung, sagen euch: Nehmt das Steuer in die Hand, empört euch!“

Ausgerechnet dieser feine, kultivierte Mann, der Chagall und Picasso gekannt hatte, der Hölderlin auf Deutsch rezitierte und eigene Gedichtsammlungen herausgab, hatte dieses zornige Pamphlet geschrieben, das Hunderttausende auf die Straße treiben sollte. Dass er kein fluchender Wutbürger à la Beppe Grillo war, sondern ein Gentleman in der Seele, trug bei den jungen Indignados nur noch mehr zu seinem Erfolg bei.

Der Sartre- und Hegel-Bewunderer traf den Nerv der Zeit. Er prangerte eine Entwicklung an, in der nicht mehr das Allgemeininteresse, sondern das Finanzordnung dominiert. Von der Höhe seines Alters erinnerte Hessel daran, dass in Frankreich der Résistance-Anführer Charles de Gaulle nach dem Zweiten Weltkrieg die Banken verstaatlicht habe, um die Sozialversicherung zu finanzieren. Heute folge die soziale Demokratie den Vorgaben des Kapitals: „Die Macht des Geldes war noch nie so groß, anmaßend und egoistisch wie heute“, hieß es in dem Bestseller. Die Nachkriegszeit habe zwar auch Erfolge verzeichnet, darunter die Entkolonisierung, das Ende der Apartheid oder den Fall der Berliner Mauer – doch seit der Jahrtausendwende finde eine rasante und umfassende soziale, politische und gesellschaftliche Regression statt.

"Das ist kein Verdienst, sondern eine Verantwortung"

Von sich selbst sprach Hessel nur ungern. In einem Interview mit dem Standard meinte er 2011 zur Frage, wie man sich als 94-Jähriger fühle, wenn man soeben eine weltweite Sozialbewegung losgetreten habe: „Das ist kein Verdienst, sondern eine Verantwortung.“ Er habe nur in Worte gefasst, was Millionen von Menschen seit langem dächten. „Empörung allein genügt aber nicht“, ergänzte Hessel im gleichen Atemzug, als Antwort auf die Kritik, er vermittle Gefühle, aber keine Lösungen. „Es macht vielleicht Spaß, auf die Straße zu gehen ; aber um nützlich zu sein, um etwas zu erreichen, muss man in unseren Demokratien in Parteien mitarbeiten, muss man sich politisch engagieren – sei das als Regierender oder als einfacher Bürger.“

Zu Bewegungen wie den italienischen „Grillini“ erklärte Hessel später, es genüge nicht, sie als Populismus oder Antipolitik abzutun. Mit dem Stil faustreckender Wutbürger hatte er aber nichts am Hut. Hessel wollte das System nicht aufbrechen, sondern von innen her ändern. „Der Staat muss eingreifen, auch in die Banken. Wir brauchen mehr, nicht weniger Regulierung. Nötig wäre ein gesamthaft neuer Ansatz, wie Roosevelts New Deal ab 1933“, fügte der alte Mann an. Vor einem Jahr unterzeichnete Hessel in Paris als einer der ersten das Manifest „Roosevelt2012“, das politisch zwischen der Sozialistischen und der Grünen Partei angesiedelt ist.

Antisemitismus-Vorwurf

Hessel hatte auch Feinde. Israel warf ihm vor, er gehe nur mit der Siedlungspolitik in den palästinensischen Gebieten ins Gericht, nicht aber mit den Regimes in Syrien oder Nordkorea – was Hessel mühelos widerlegte. Gilles-William Goldnadel, Vertreter des jüdischen Dachrates in Frankreich (Crif), warf ihm in einem Gegen-Pamphlet namens „Der alte Mann empört mich“ darauf vor, seine Résistance-Taten und seine diplomatische Karriere übertrieben zu haben. Der Angesprochene nahm solche persönlichen Attacken schmunzelnd als Hommage entgegen: Sie zeigten, dass es gegen Hessel einfach keine Argumente gab. (Stefan Brändle, derStandard.at, 27.2.2013)