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Joachim Gaucks erste Grundsatzrede wurde live im Fernsehen übertragen.

Foto: Reuters/Peter

Seit knapp einem Jahr ist Joachim Gauck nun deutscher Bundespräsident. Unzählige Gespräche hat er in dieser Zeit geführt, zahlreiche Auftritte absolviert. Aber eine große Grundsatzrede stand noch nicht in seinem präsidialen Programm. Bis zum Freitag, da lud Gauck 200 Gäste ins Berliner Schloss Bellevue, um vor ihnen fast eine Stunde über Europa zu sprechen. "Perspektiven der europäischen Idee" nannte er seinen Vortrag, den er mit den Worten einleitete: "Ich stehe als bekennender Europäer vor Ihnen."

Er wisse, dass viele in Europa und in Deutschland mittlerweile mit dem Projekt nicht mehr viel anfangen könnten: "Es gibt Klärungsbedarf in Europa, angesichts der Zeichen von Ungeduld, Erschöpfung und Frustration unter den Bürgern." Und doch sollten die Deutschen nicht die vielen Annehmlichkeiten vergessen, die die EU ihnen bringe: "Wir reisen von der Memel bis zum Atlantik und von Finnland bis nach Sizilien, ohne an irgendeiner Grenze den Reisepass zu zücken. Wir zahlen in großen Teilen Europas mit einer gemeinsamen Währung und kaufen Schuhe aus Spanien ohne Zollaufschläge."

Keine Angst vor Deutschland

Das sei nicht selbstverständlich, und deshalb brauche es jetzt, in der Krise, große Anstrengungen. Gauck: "Mehr Europa fordert: mehr Mut bei allen! Europa braucht jetzt nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker, nicht Getriebene, sondern Gestalter."

Gauck wandte sich in seiner Rede aber nicht nur an die Deutschen. Auch für die Bürger jenseits der bundesrepublikanischen Grenzen hatte er eine Botschaft. Sie bräuchten keine Angst vor einem zu starken Deutschland haben: "Ich sehe unter den politischen Gestaltern in Deutschland niemanden, der ein deutsches Diktat anstreben würde. Bis jetzt hat sich die Gesellschaft rational und reif verhalten. In Deutschland fand keine populistisch-nationalistische Partei in der Bevölkerung die Zustimmung, die sie in den Bundestag gebracht hätte."

Briten sollen in der EU bleiben

Ausdrücklich rief Gauck die Briten dazu auf, in der EU zu bleiben. Er wünscht sich für die Zukunft mehr Europa: "Wir brauchen eine weitere innere Vereinheitlichung, denn ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik kann eine gemeinsame Währung nur schwer überleben." Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik fordert Gauck mehr Zusammenarbeit.

Er befasste sich auch mit der fehlenden gemeinsamen Identität in Europa: " Wir Europäer haben bis heute keinen Gründungsmythos nach Art einer Entscheidungsschlacht." Dennoch sei der "gemeinsame Wertekanon" das Verbindende. Nach der Rede, für die er viel Applaus bekam, war Gauck sichtlich erleichtert. Auch von den Parteien kam Lob - wenngleich sich die Grünen einen Seitenhieb nicht verkneifen konnten: "Gauck füllt die Lücke, die Kanzlerin Merkel seit Jahren nicht schließen konnte: Europa den Menschen zu erklären und für mehr Europa zu werben." (Birgit Baumann, DER STANDARD, 23.2.2013)