Der Sonnenschein trügt: Joaquin Phoenix als haltloser Seemann Freddie Quell in Paul Thomas Andersons beeindruckendem Drama "The Master".

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Wien - Der Mann ist ein Drifter. Von der Marine entlassen, verdingt er sich erst als Kaufhausfotograf. Nach einer gewaltigen Entgleisung inmitten der glamourösen Warenwelt kommt er als Feldarbeiter unter. Bald kann man ihm auch hier dabei zusehen, wie er über einen staubigen Acker um sein Leben rennt. Auf einem kleinen Dampfer sucht er nächtens Zuflucht und begegnet einem ungewöhnlichen Gastgeber.

The Master heißt der sechste Kinofilm von Paul Thomas Anderson. Der US-Filmemacher hat mit Filmen wie Boogie Nights, Magnolia oder Punch Drunk Love seit den späten 1990er-Jahren ein vielseitiges OEuvre produziert. In There Will Be Blood hat er zuletzt schon einmal auf bemerkenswerte Weise von Ölbaronen und (falschen) Propheten, von Selfmade-Men im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts erzählt. In The Master, einem der aufregendsten Filme der laufenden Saison, muss der ausgemusterte Seemann Freddie Quell (Joaquin Phoenix) seinen Platz im Nachkriegsamerika finden.

Seinem möglichen Meister begegnet er dabei in Gestalt eines gewissen Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman): ein "hoffnungslos wissbegieriger Mann" mit vielen Talenten, der in Begriff ist, seine Sache, den (Ur-)Grund, "The Cause", großzumachen. Dodd erkennt in Quell ein vielversprechendes Gegenüber, einen Probanden für seine neue Methode der Bewusstseinserforschung und -manipulation - und einen talentierten Mixer hochprozentiger Drinks. Quell rückt ins engste Gefolge des Masters auf, dem sonst nur seine Frau, sein erwachsener Sohn, seine Tochter und deren Ehemann angehören. Er entgeht damit einem Leben auf der Straße. Er soll aber auch lernen, seine inneren Versehrungen zu überwinden und seine handgreiflichen Ausbrüche zu kontrollieren.

Kein Scientology-Film

Bereits lange vor der Premiere in Venedig vergangenen September wurde The Master als Schlüsselfilm über den Scientology-Gründer L. Ron Hubbard gehandelt. Anderson hat statt eines Enthüllungsfilms oder eines Biopics jedoch lieber die Skizze einer Ära des Umbruchs angefertigt. Der entwurzelte Kriegsheimkehrer Quell und der Religionsgründer und Grenzwissenschafter Dodd stehen modellhaft für Menschen ihrer Zeit. Zugleich werden sie von ihren Darstellern aber ganz individuell verkörpert:

Phoenix spielt Quell als irritierenden Unruhepol - mit nach vorne gekrümmten Schultern, fliegendem Blick, unberechenbar und wendig. Hoffman hingegen wirft sich geschmeidig in die Rolle des brillanten Rhetorikers und gewandten Verführers, der seine Anhänger auch singend umschmeichelt. (Etliche Kritiker haben angemerkt, dass auch das Method-Acting eine Erfindung jener Jahre ist - Lee Strasberg übernahm 1948 die künstlerische Leitung des Actors Studios.)

Der Film begleitet die Beziehung seiner Hauptfiguren - Anderson spricht auch von ihrer "Liebesgeschichte" - durch eine Phase, in der sich Entscheidendes vollzieht. Die Zeit, die Räume, Artefakte und Kostüme, historische Oberflächen und Attribute sind akkurat nachgebildet und gefärbt.

Seit There Will Be Blood arbeitet Anderson mit dem Production-Designer Jack Fisk (The Tree of Life) zusammen. Aber auch der Regisseur ist dafür bekannt, dass er entsprechende Recherchen anstellt, historische Fotos und andere Quellen konsultiert. Dabei ist The Master aber ganz und gar kein rückwärtsgewandtes "period piece", sondern ein Werk der Gegenwart - nicht an der filmischen Erzählweise der Zeit orientiert, in der er spielt, sondern mehr wie eine moderne Symphonie angelegt.

Instrumentale Leitmotive - komponiert wieder von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood - und Songs, wie ein von Ella Fitzgerald lasziv somnambul intoniertes Get Thee Behind Me, Satan, strukturieren, rhythmisieren, dynamisieren die Erzählung und die Passage der Männer. Irgendwann wird Dodd seine Schule in feste Mauern fassen. Und Quell, der Obsessive, den es zu Frauen zieht, der Sex will, wird sein Heil vielleicht in einer Art fröhlichen Profanisierung der Lehre finden - gutes Rüstzeug für die kommenden Zeiten.  (Isabella Reicher, DER STANDARD, 21.2.2013)