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"Wo sind die Verwundeten?" war mein erster vollständiger Satz auf Deutsch. Gesprochen wurde er von einem deutschen Soldaten in dem Partisanenfilm "Mirko i Slavko", den ich mit zehn oder elf das erste Mal gesehen habe. Eigentlich war der Plot kein kindgerechter Stoff: Nazis erschießen alle Männer einer fiktiven jugoslawischen Kleinstadt, die Frauen werden ins KZ transportiert. Die Kinder bleiben verschont, weil sie sich versteckt haben, um anschließend selbstständig den Widerstand zu organisieren. Starker Tobak.

Mirko i Slavko, 1973

Lesen, lesen, lesen

Als ich im Frühsommer 1992 in Wien lande, habe ich "Mirko und Slavko" nicht vergessen, ebenso wenig den Nazi-Satz. Doch beides nützt mir nun wenig. Was sich aber von großem Nutzen erweist, ist der fundierte Muttersprachen-Unterricht, den ich in meiner bosnischen Dorfgrundschule erhalten habe. Ich hatte das Glück, eine engagierte (und über alle Maßen strenge) Serbokroatisch-Lehrerin zu haben, die uns die Grammatikbegriffe auch auf Latein einbläute. Am Nachmittag war ich zusätzlich in der Neigungsgruppe "Liga der Junglinguisten", und an drei Tagen in der Woche hatte ich Bibliotheksdienst. Während ich darauf wartete, dass sich Schulkameraden Bücher ausborgen oder sie zurückbringen, las ich mich durch die winzige Bibliothek. Internationale Jugendbuchklassiker wie die Werke Jules Vernes und Mark Twains waren darunter, genauso die ideologisch gefärbte Lektüre der zeitgenössischen einheimischen Kinderautoren.

Das war die "Unterlage", auf die ich beim Deutschlernen zurückgreifen konnte. Und im Nachhinein betrachtet war es nicht die schlechteste. Ich wage sogar zu behaupten, ich hätte es nicht besser treffen können.

Den Sommer 1992 verbringe ich in einem Volkshochschul-Sprachkurs für Erwachsene (ein Angebot für Kinder gab es entweder nicht, oder ich und meine Arbeitereltern haben nichts davon gewusst). Im darauffolgenden Schuljahr besuche ich die Abschlussklasse einer Hauptschule. Ich nehme kaum am Regelunterricht teil, verpasse aber auch kaum etwas. Für mich und sieben bis zehn andere gibt es Deutschförderunterricht. Im Sommer 1993 bereite ich mich dann auf die Aufnahmeprüfung für ein Oberstufenrealgymnasium vor und lese die Jugendbuchklassiker noch einmal auf Deutsch und Englisch. Der Rest ist (Bildungs-)Geschichte.

Muttersprache zuerst!

Am 21. Februar ist Internationaler Tag der Muttersprache. Und deswegen ein Appell: Muttersprache zuerst! Und zwar richtig. Das heißt: gezielte Förderung im staatlichen Bildungssystem, flächendeckende Unterstützung duch MuttersprachenlehrerInnen. Dann wird auch die Forderung nach dem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr bei Sprachdefiziten obsolet.

Die Migrantenkinder, die Sebastian Kurz und andere Befürworter des Deutschlernens im Kindergartenalter meinen, sind jene aus bildungs- und einkommensschwachen Familien. Die erste Sprache, die diese Kinder hören und erlernen, bleibt ihre Gefühlssprache. Sie lernen von ihren bildungsfernen Eltern Türkisch, Tschetschnisch oder Serbisch, aber eben nur sehr mangelhaft.

Auf diesem "Halbwissen" sollen sie nun möglichst schnell und getrennt von anderen Kindergartenkindern Deutschkenntnisse aufbauen, um mit sechs Jahren eingeschult zu werden und dort kein vermeintlicher Störfaktor zu sein.  Eine so frühe Segregation der Kleinsten  ist ein fatales gesellschaftspolitisches Signal und diese Strategie wird im Sinne der Schaffung von Chancengleichheit nicht aufgehen. Ohne gemeinsame Vorschule und flächendeckende Gesamtschule werden die wenigsten, die diesen "Fördergarten" absolviert haben, den Bildungsaufstieg schaffen.

Soziale Durchmischung

Sozial durchmischte Klassen und Schulen sind es, die Chancengleichheit schaffen. Ein homogenes Angebot auch für Sechs- bis Vierzehnjährige, das gleichermaßen die Schwachen unterstützt und besonders Begabte fördert, ist gefragt. Dafür braucht man mehr gut ausgebildetes und auf den multilingualen Schulalltag vorbereitetes Lehrpersonal, kleinere Klassen und damit den Willen zu einer radikalen Bildungsreform.

Meine Generation, also diejenigen, die im Zuge der Balkankriege in den 1990er Jahren nach Österreich kamen, wird gerne als großartig integriert gelobt und damit erfolgreich gegen die typischen Gastarbeiterkinder der zweiten Generation ausgespielt. Ja, teilweise liegt das natürlich auch daran, dass unter den Flüchtlingen nicht bloß ungelernte Arbeiter waren. Die Gruppe war wesentlich durchmischter als jene, die in den 1960er und 1970er Jahren eingewandert ist. Aber der "Erfolg" der ehemaligen Flüchtlingskinder gründet auch auf der "Unterlage", die sie nach Österreich mitgebracht haben: der Erfahrung, die sie ein einem sozial durchlässigen Bildungssystem gemacht haben, und guten Muttersprachkenntnissen. (Olivera Stajić, daStandard.at, 20.2.2013)