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Richard Precht: "Klein-klein statt großer Perspektiven."

Foto: ap/Guelland

Larissa Rohr/Kati Trinkner: Herr Precht, wir erleben in Europa die zunehmende Erosion der parlamentarischen Demokratien, wir sehen, wie die gewählten Vertreter des Volkes von den Finanzmärkten in Schach gehalten werden. Im Kontrast zur Statik dieses Systems steht der Eindruck der Hektik und Dramatik, den die Medien vermitteln: Die Meldungen über neueste Pläne und Absichtserklärungen, über Stellungnahmen, Abstimmungen und Krisenkonferenzen jagen einander.

Precht: Das hängt mit den technischen Kommunikationsmitteln zusammen, die sich in einer Weise vervielfältigt und beschleunigt haben, wie es bei der Entstehung unseres politischen Systems noch undenkbar war. Wir leben heute in einer hochbeschleunigten Welt mit einem System, das eigentlich auf Entschleunigung angelegt ist.

Rohr/Trinkner: Aber diese gegenwärtige Treibhausatmosphäre ist doch nicht nur eine Frage der Kommunikationstechnik, sondern auch eines politischen Milieus, dessen Mitglieder an keiner Kamera, keinem Mikro vorbeigehen können!

Precht: Die überhitzte Atmosphäre erzeugen doch erst die Medien, indem sie ständig und zu allem Kommentare einfordern. Dadurch meinen die Politiker, sie müssten sich zu jedem Thema äußern, egal wie kompetent sie sind. Stellen Sie sich vor, Angela Merkel würde einmal ehrlich sagen, dass sie von einem Thema keine Ahnung hat - dann würde die "Bild"-Zeitung am nächsten Tag titeln: "Skandal - Kanzlerin ratlos!" Deshalb ist der ganze Politikbetrieb eine einzige "Kompetenzsimulierungsmaschine". Politik besteht heute zu fünf Prozent aus Entscheidungsfindung und zu 95 Prozent aus der Entscheidungsvermarktung. Das ist der Ausfluss einer Mediendemokratie, die mit realer Demokratie so viel zu tun hat wie Donald Duck mit einer Stockente.

Rohr/Trinkner: Diese Mediendemokratie würde aber nicht funktionieren, wenn es unter Politikern nicht so ein verbreitetes Bedürfnis nach öffentlicher Selbstdarstellung gäbe.

Precht: Aber damit reagieren sie auch wieder nur auf die Arbeitsweise der Medien mit ihrer permanenten Personalisierung wichtiger Themenbereiche bei gleichzeitiger Ausblendung der gesellschaftlichen Zusammenhänge. Dieser Personenkult, die Konzentration auf wenige prominente Politiker, setzt diese unter ständigen Reaktionszwang. Dabei steht die überdimensionierte Rolle, die den sogenannten Spitzenpolitikern auf diese Weise zugeschrieben wird, in einem absurden Missverhältnis zu ihren realen Gestaltungsmöglichkeiten. Denn die Macht des einzelnen Politikers ist ja immer weiter geschrumpft. Verglichen mit einer Angela Merkel verfügte ein Konrad Adenauer über eine geradezu monarchische Machtfülle. Aber er konnte sich zu seiner Zeit damit begnügen, vielleicht alle zwei Wochen mal ein Interview zu geben.

Rohr/Trinkner: Bisher haben wir über die klassischen Medien, über professionellen Journalismus gesprochen - einen geradezu unheimlichen Druck übt aber auch die riesige Internetgemeinde aus.

Precht: Um ehrlich zu sein, halte ich die Bürgerbeteiligung im Netz für eine Illusion. Die Leute geben ihre Meinung ab und haben das Gefühl, eine politische Tat begangen zu haben. Aber niemand hört sie. Ich glaube, ein wirklicher politischer Strukturwandel läuft nicht über das Internet. Die Voraussetzung für einen solchen Wandel ist nämlich, dass bestimmte Themen eng gebündelt werden, und ich bezweifle, dass das Internet da Gleiches leisten kann, wie es die großen meinungsbildenden Zeitungen geleistet haben. Das Internet segmentiert so stark, dass jeder in seiner eigenen Informationswelt leben kann, aber dadurch wird es auch immer schwieriger, Gemeinsamkeiten herzustellen.

Rohr/Trinkner: Dann gefällt es Ihnen sicherlich, dass in jüngster Zeit viele Menschen wieder auf die Straße gehen und demonstrieren.

Precht: Das ist ein positives Zeichen, denn unsere Demokratie lag über drei Jahrzehnte im Dornröschenschlaf. Die Proteste sind ein Symptom dafür, dass der Druck im Kessel hoch ist. Noch funktioniert unser politisches System, aber bald fliegt der Deckel ab. Interessant finde ich, dass sich eine Allianz gebildet hat aus sehr jungen Leuten, die sich bei Occupy, Attac oder anderen Organisationen engagieren, und Alt-68ern, die lange unter der politischen Abstinenz der nachfolgenden Generationen gelitten hatten. Man soll sich nicht täuschen: Die heutigen Protestbewegungen haben in der breiten Bevölkerung einen viel größeren Rückhalt, als ihn die 68er damals hatten.

Rohr/Trinkner: Zelebrieren die Demonstranten nicht vor allem die eigene Antihaltung?

Precht: Das ist normal: Ziele zu formulieren schafft keine Mehrheiten, wohl aber, gegen etwas zu sein. Das ist der Startpunkt aller Veränderungen.

Rohr/Trinkner: Gut, aber wohin sollen sie gehen, und wer soll denn letztlich die Ziele definieren?

Precht: All die Leute, die sich kluge Gedanken über Alternativen machen, sollten sich vernetzen und sich auf eine Art Notfallplan verständigen. Denn weder die gegenwärtigen Politiker noch die gegenwärtigen Chefs des Finanzsystems haben einen Plan B, wie das bestehende System zu retten oder zu ersetzen wäre.

Rohr/Trinkner: Also eine Art Philosophenrat als Schattenregierung?

Precht: Nein, keine Schattenregierung. Die würde sowieso nicht gehört. Selbst wenn die tollsten Weltrettungspläne an unseren Universitäten entwickelt würden, sie blieben in den Schubladen liegen, denn die meisten etablierten Politiker haben nie gelernt - oder es sich systematisch abgewöhnt -, gesellschaftliche Visionen oder auch nur über den Tag hinaus reichende Ziele zu entwickeln. Deshalb müssen wir als Volk Forderungen stellen, Utopien einfordern. Und ich habe das Gefühl, dass unter dem Eindruck der neuen gesellschaftlichen Bewegungen die Utopieresistenz mancher Politiker ganz allmählich schwächer wird. Und die Träumer und Utopisten werden in die Politik zurückkommen - aber nicht in den etablierten Parteien.

Rohr/Trinkner: Dort finden wir heutzutage eher Machtmenschen als Utopisten und Weltverbesserer ...

Precht: Das ist das Problem: Denn dort werden die Angepassten belohnt, die, wenn sie dann oben angelangt sind, nur noch das Ziel haben, oben zu bleiben, aber nicht, gesellschaftspolitische Projekte zu verwirklichen. Der Pragmatismus, das alltägliche Klein-klein hat die großen politischen Perspektiven abgelöst. Von dem französischen Philosophen Paul Valéry stammt der Satz: "Nur durch die Extremen hat die Welt ihren Wert, nur durch die Gemäßigten hat sie ihren Bestand." Wir brauchen eine Mischung aus beidem. Aber im Moment haben wir hauptsächlich Durchschnitt.

Rohr/Trinkner: Ein Mittel, um diese inhaltliche Durchschnittlichkeit zu verdecken, ist der effektvolle Auftritt, die Inszenierung. Besteht darin heute die Kunst der Politik?

Precht: Wenn man bedenkt, dass die Anforderungen an eine gute Inszenierung sehr hoch sind, fragt man sich, warum das Personal so schlecht ist. Es gibt in Deutschland kaum einen Politiker, der sich gut inszenieren kann. Da bildete der Minister Karl-Theodor zu Guttenberg eine Ausnahme: Er war ein guter Schauspieler.

Rohr/Trinkner: Spricht das nicht eigentlich für ihn? Er hat es immerhin geschafft, in einer Zeit allgemeiner Politikverdrossenheit große Teile der deutschen Bevölkerung für die Politik zu begeistern.

Precht: Für die Politik oder für seine Person? Guttenberg stand für nichts, er war ein perfekter Überzeugungssimulator. Solche Leute sind gefährlich, weil andere sie für ihre Zwecke einspannen können. Deshalb besteht immer die Gefahr, dass ein Guttenberg von den Oligarchen in diesem Land protegiert wird. Dann kann der Aufstieg so schnell gehen wie beim österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider, der auf seine Art noch viel geschmeidiger war als Guttenberg. Man darf auch nicht vergessen, dass Guttenberg die große Zustimmung auch der massiven Unterstützung durch die "Bild"-Zeitung verdankte. Die Volksmeinung ist eben immer auch eine gelenkte Meinung, und an diesem Beispiel zeigt sich wieder, dass sie von Medien wie Bild viel stärker bestimmt wird als vom Internet. (DER STANDARD, Album, 16./17.2.2013)