Eine Krise am anderen Ende der Welt. Menschenleben in Gefahr, eine Regierung vor dem Sturz, ein ganzes Land vor dem Chaos, ein Eingreifen von außen als einzige Lösung. Die EU entscheidet sich für eine rasche Intervention. Ein Krisenplan wird erstellt, spätestens fünf Tage danach hat der EU-Rat seine Zustimmung dafür gegeben. Innerhalb der nächsten zehn Tage sind die ersten Truppen vor Ort, der Rest der zwischen 1.500 und 2.500 starken EU-Battlegroup folgt wenig später, um das Schlimmste zu verhindern und die Ordnung wiederherzustellen.

Soviel zum Wunschszenario. Nun zur Realität: Die im Juni 2004 ins Leben gerufenen EU-Battlegroups wurden bislang noch kein einziges Mal eingesetzt. Aufgabe einer Battlegroup ist es, im Falle einer Krise eine erste Truppenpräsenz zu gewährleisten, wenn ein rasches Eingreifen vonnöten ist. Im Idealfall liegt für einen Einsatz ein UN-Mandat vor. Dementsprechende Anlässe hätte es genug gegeben: 2006 zur Absicherung der Wahlen im Kongo oder im selben Jahr zur Sicherung des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon, 2008 zur Krisenbewältigung im Ostkongo oder als Unterstützungsoperation im Tschad, heuer in Mali. Die Antwort lautete aber immer Nein. Wenig überraschend erscheint daher, dass zahlreiche Politiker scharfe Kritik an den EU-Battlegroups üben. Österreichs Außenminister Michael Spindelegger beispielsweise bezeichnete sie letztes Jahr als "Fehlkonstruktion", für den französischen EU-Parlamentarier Arnaud Dejean war es eine "Schande", dass sie vor knapp zwei Monaten nicht in Mali eingesetzt wurden.

Die Gründe für ein Nichteinsetzen der EU-Battlegroups sind vielfältiger Natur. Einer davon ist der politische Entscheidungsprozess, der laut vorgegebenem Zeitplan schnell vonstatten gehen muss. Erklären sich die EU-Staaten grundsätzlich bereit, in einer Krise aktiv zu werden, wird ein Krisenmanagementkonzept erstellt. Nach Billigung des Konzepts auf EU-Ebene muss jedes einzelne Land innerhalb von fünf Tagen zustimmen, um der Operation eine rechtliche Grundlage zu geben. Von Staat zu Staat variieren die Entscheidungsprozesse, in manchen Ländern ist ein Parlamentsbeschluss erforderlich, in anderen reicht hingegen ein Regierungsentscheid. In Österreich beispielsweise bedarf es eines Beschlusses des Ministerrates und des Hauptausschusses im Parlament.

Dieses ganze Prozedere, sagen viele Beobachter, ist der Hauptgrund, weshalb es noch zu keinem einzigen Einsatz gekommen ist. Auch der österreichische Militärexperte Gerald Karner sieht darin die größte Hürde: "Der EU-Rat ist nicht in der Lage, derartige Entscheidungen so schnell zu treffen. Da spielen viele unterschiedliche nationale Interessen eine Rolle." Bei diesen Interessen gibt es einen tiefen Graben zwischen jenen Ländern, die das Militär als aktives Element einer Sicherheitspolitik betrachten und den anderen, die einen Einsatz der Streitkräfte als allerletzte Option sehen. Auf der einen Seite vorwiegend Großbritannien und Frankreich, auf der anderen Seite – bis auf punktuelle Ausnahmen – der Rest.

Als Lösung schlägt Karner eine Reformierung des Entscheidungsprozesses vor, die allerdings einen gravierenden Nebeneffekt hätte: "Um den Prozess zu reformieren, müsste der politische Wille bestehen, dass Nationalstaaten ein wenig von ihrer Souveränität aufgeben. Das ist allerdings sehr unwahrscheinlich, sodass ich auch einen Einsatz der EU-Battlegroups in naher Zukunft für unwahrscheinlich halte".

Ein weiteres Argument gegen ein Einsetzen der EU-Battlegroups ist die Kostenfrage. Zwar wird ein Teil durch den Athena-Mechanismus finanziert, eine Art EU-Topf, mit dem gemeinsame Einsätze finanziert werden sollen. Doch betrifft das nur einen geringen Teil der Kosten, ansonsten gilt das Prinzip: "Costs lie where they fall". Die Länder, die bei einem eventuellen Einsatz gerade die Battlegroups stellen, müssten also auch die meisten Kosten tragen. Dementsprechend gehören die betreffenden Staaten meist nicht zu den Befürwortern eines Einsatzes.

"Gewinnt man damit Wählerstimmen? Ich denke nicht"

Andere Gründe für das Nichteinsetzen der EU-Battlegroups nennt Claudia Major, Expertin für Sicherheitspolitik der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Ihrer Meinung nach ist der fehlende Stellenwert des Faktors Sicherheit dafür verantwortlich: "Die Staaten haben die Einsätze nicht als Priorität angesehen. Der Entscheidungsprozess ist schwierig, zugegeben, aber im Endeffekt keine Hürde, wenn der politische Wille für einen Einsatz vorhanden wäre." Die Mehrheit der EU-Staaten, so Major, glaubt nicht, dass es momentan Sicherheitsrisiken gibt: "Fühlt Europa sich substanziell militärisch bedroht? Nein. Auf der politischen Agenda steht derzeit die Wirtschaftskrise ganz oben. Sicherheit und Verteidigung finden sich auch nirgends in den Top 3. Gewinnt man damit Wählerstimmen? Ich denke nicht."

Dass eine relevante sicherheitspolitische Komponente der EU aber vonnöten ist, zeigen die Entwicklungen der NATO, jenem Militärbündnis, das mit der Unterstützung der USA steht und fällt. Und die sehen es mit Missfallen, dass die europäischen Staaten sich immer mehr aus der Verantwortung stehlen, und zwar sowohl aus der NATO als auch im Rahmen der EU. Dafür verantwortlich ist auch die anhaltende Wirtschaftskrise, die die EU-Staaten dazu gebracht hat, ihre Verteidigungshaushalte massiv zu kürzen. "Seit 2009 bauen sie Personal und Fähigkeiten ab, setzen Beschaffungen aus. Und das in einem Ausmaß, sodass Europa in weiten Teilen militärisch handlungsunfähig ist", bilanziert Major.

"Immer weniger Fähigkeiten, immer ungleicher verteilt"

Den gravierendsten Fehler haben die EU-Staaten aber damit begangen, indem sie die Kürzungen nicht untereinander koordiniert haben. Die Niederlande etwa hat ihre Panzer verkauft, dies aber nicht mit den anderen Ländern abgesprochen. Eine gefährliche Entwicklung, sagt Major: "Wenn jeder anfängt, seine militärischen Kräfte abzubauen, dann hat das nicht nur Auswirkungen auf das Land selbst, sondern auch auf Europa als Ganzes. Die Forschung nennt das Kritikalität: Immer weniger Fähigkeiten, immer ungleicher verteilt."

Dass Staaten aufgrund der Wirtschaftskrise sparen, kann ihnen nicht unbedingt angelastet werden. Doch kann ihnen laut Experten zurecht vorgeworfen werden, nicht das Notwendige mit dem Praktischen zu verbinden, also militärische Kräfte zu bündeln und damit gleichzeitig Geld zu sparen. "Die Europäer haben Redundanzen in den militärischen Strukturen, sie halten immer noch Kräfte aufrecht, die nicht in multinationale Einsätze gehen können. Wenn man von dem Speck etwas abschneidet, wären die finanziellen Mittel für Battlegroup-Einsätze reichlich vorhanden", sagt Karner.

Die EU-Battlegroups können trotz allem aber nicht als Fehlkonstruktion bezeichnet werden. Bei der Initiierung im Jahr 2004 war Einsatzfähigkeit nur einer der Hauptaspekte, ein anderer war der, die einzelnen Staaten durch dieses Projekt zu multinationaler Zusammenarbeit und zur Transformation ihrer Streitkräfte zu animieren. "Viele Streitkräfte waren damals noch auf Territorialverteidigung ausgelegt. Den Ländern war klar, dass es für ein Krisenmanagement schnellerer Verlegbarkeit und Einsatzfähigkeit bedarf. Sie brauchten dafür aber ein militärisches Modell, an dem sie sich orientieren konnten", erklärt Major. Die Battlegroups lieferten dieses Modell, und Schweden beispielsweise richtete sich bei der Reformierung seiner Streitkräfte stark danach.

Auch Gerald Karner stellt den EU-Battlegroups trotz des Mankos eines fehlenden Einsatzes ein gutes Zeugnis aus, er streicht dabei vor allem die Zusammenarbeit der verschiedenen Streitkräfte hervor: "Die Battlegroups haben der Integration der Streitkräfte gedient, unabhängig davon, ob sie eingesetzt werden oder nicht. Militärische Strukturen wurden auch in Friedenszeiten multinational zusammengefügt, es kam zu gemeinsamen Trainingseinheiten. Bis dahin wurden Truppen bunt zusammengewürfelt, die sich erst bei einer Mission zu einer einsatzfähigen Truppe fügen mussten."

"Es sollte eine europäische Armee geben"

Trotz der genannten Vorteile gibt es aber einen breiten Konsens darüber, dass das Konzept der EU-Battlegroups im Speziellen und die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Allgemeinen überarbeitet werden muss. Dies soll auf einem EU-Gipfel im Dezember geschehen. Für Claudia Major ist dort von elementarer Bedeutung, dass sich "Europa bewusst macht, dass es Fähigkeiten abgebaut hat, dass es militärisch nur mehr gemeinsam handlungsfähig ist."

Einen Schritt weiter geht Gerald Karner, er denkt an den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Armee: "In letzter Konsequenz kann daran kein Weg vorbeiführen. Kein Land allein kann mehr die neuen Bedrohungen abwehren, das geht nur gemeinsam. Und das wäre auch ökonomischer, weil zu viele Streitkräfte der nationalen Verteidigung dienen, was ja oft gar nicht mehr notwendig ist." Dass es in absehbarer Zukunft dazu kommt, hält Karner für unwahrscheinlich, schließlich müssten die Staaten dafür einige Souveränitäten abgeben. Aber: "Es sollte sie geben, und ich glaube, es wird sie auch irgendwann geben." (Kim Son Hoang, derStandard.at, 19.3.2013)