Die zweite Runde im türkischen Schuljahr hat Montagmorgen begonnen, und der wahre Schrecken für das sechs Millionen große Schulvolk von Edirne bis Diyarbakir sind nicht Physikprüfungen oder ungehobelte Klassenkameraden mit einem starken rechten Ausleger, sondern das Milchtrinkprogramm der ewig sorgenden Regierung.

Nach dem Fiasko vom Mai 2012, als die Gratisverteilung von Schulmilch innerhalb weniger Stunden landesweit zur ärztlichen Behandlung von 4.000 Schülern führte, hat die türkische Regierung am Montag einen neuen Versuch gestartet, was zumindest eine gewisse Beharrlichkeit beweist.

Am Design hat sich nichts geändert: "okul sütü, akil kübü", steht reimend auf den kleinen Milchpackungen, in etwa "Schulmilch, ein Würfel mit Gehirn". Für die Schüler ist aber zu hoffen, dass sich die Behörden dieses Mal mehr Mühe mit der Qualität der Milch gegeben haben. Eltern mussten unterschreiben, dass sie mit dem Ausschank der Gratismilch an ihre Kinder einverstanden sind. Auch eine Werbekampagne des Schulministeriums ging der Milchbeglückung voraus. Darin sehen wir unter anderem Selda Bülbül - Professorin und Doktorin und Mitglied des quasi Obersten Milchrats (OMR) im Land -, die "unseren Kindern" verordnet: "Zwei Glas Milch am Tag, früh ins Bett und Sport treiben."

Professor Bülbül geht allerdings auch auf die geheimnisvollen Symptome des Milchkonsums vom vergangenen Jahr ein (Übelkeit, Bauchgrimmen, Durchfall). Man möge sich in ärztliche Obhut begeben, sollten innerhalb von sechs Stunden nach dem Genuss der Milch tatsächlich Beschwerden auftauchen, sagt sie.

Die Gratisverteilung von Schulmilch von der ersten bis zur fünften Klasse und dreimal die Woche - Kostenpunkt: umgerechnet gute 30 Millionen Euro - ist Teil der Wir-sind-einfach-super-Kampagne der regierenden Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit (AKP). Für das Debakel im vergangenen Jahr musste sie deshalb entsprechend viel Spott einstecken. In einem Musikvideo zum Beispiel (leider schlechte Qualität) sieht man drei Riesenbabies in Schuluniformen, die ihr Leid mit der Diarrhö bringenden Milch klagen. Und das geht so:

"Ich trank Milch und bekam Durchfall,

Auweh, auweh.

Schulmilch, Würfel mit Gehirn - ich bin sauer auf dich."

 

In deutlicher Anlehnung an die Herrschaften, die auf Istanbuler Grünstreifen den milchfarbenen, mit Wasser gemischten Raki aus Teegläsern trinken, kippen auch die Riesenbabies ein Milchglas nach dem anderen weg. Das Musikstück wiederum ist eine Parodie eines nicht wenigen seltsamen Liedguts aus Kilis im Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien ("süt içtim dilim yandı" - "Ich trank Milch und meine Zunge brannte. Es lief über und der Teppich brannte. Mädchen, ich liebe dich ...").

Das Schulministerium hat dieses Mal auch einen Frage-und-Antwort-Katalog bereit, auf dem die eisenharten Qualitätsprüfungen für Schulmilch erklärt werden (fünf Packungen jeder Lieferung werden untersucht) oder die Grundsätze sachgemäßer Lagerung ("sicher, kühl, trocken, vor Sonne geschützt"). Auch das Labor wurde gewechselt. Denn beim letzten Mal muss Einiges daneben gegangen sein. Die Lieferfirmen wurden so schludrig ausgewählt, dass es gleich einen Engpass bei der Menge gab und mit Trockenmilch und sogar Öl improvisiert wurde, so sagte zumindest die Opposition. Entrüstet wies die Regierung den Vorwurf zurück, sie hätte die Schulkinder "vergiftet". Allergisch seien die Kinder oder ganz einfach nicht gewohnt, Milch zu trinken.

Nun wird in der Türkei aber täglich Einiges an Käse und Joghurt vertilgt, was die Theorie von einer massenhaft verbreiteten Laktoseintoleranz doch in Frage stellt. Zwar enthalten Tulum-Käsesorten (Van, Ezincan, Izmir ...) oder Kaşar wegen ihrer mehrmonatigen Reifezeit weniger Milchzucker, bei Beyaz peynir (türkischer "Feta") oder gar Joghurt sieht das aber anders aus. Wenn türkische Schulkinder morgens schon nicht unter den Frühstückstisch fallen, dann kann es mit der nationalen Laktoseintoleranz also nicht so weit her sein: Dann war die Schulmilch eben schlecht. Oder die halbe Schulklasse hat geglaubt, die Milch sei schlecht - Massenhysterie statt Massenunverträglichkeit.

Bis Montagabend sind noch keine neuen Laktoseopfer bekannt geworden. Afiyet olsun. (Markus Bernath, derStandard.at, 11.2.2013)