Zlata Filipović lebt nun als Dokumentarfilmerin in Dublin.

Foto: Jelena Gučanin

Das Tagebuch "Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo" war ein internationaler Bestseller und wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Foto: Jelena Gučanin

Ihr Tagebuch wurde in 20 Sprachen übersetzt und machte sie weltberühmt. Mit daStandard.at sprach das ehemalige Flüchtlingsmädchen Zlata Filipović über ihre ungewöhnliche Fluchtgeschichte, über Bosnien nach dem Krieg und darüber, warum wir aus der Geschichte lernen müssen.

daStandard.at: Sie sind derzeit anlässlich der Aktionswoche "Kindersoldaten" des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien. Warum ist es wichtig, Krieg durch die Augen eines Kindes zu sehen?

Filipović: Weil sich die Geschichte wiederholt. Wir werden nicht nur daran erinnert, wir leben diese Realitäten jeden Tag, Krieg ist überall präsent. Ich selbst habe diese Erfahrung machen müssen. Mein Tagebuch, das mein Leben in den Jahren 1991 bis 1993 in Sarajevo und damit einen Ausschnitt des Krieges beschreibt, wurde veröffentlicht, als ich 13 war. Das passierte alles sehr schnell, und ich begriff damals, wie stark die Menschen auf persönliche Geschichten reagieren. Wenn wir etwa hören, dass hunderttausende Menschen in einem Konflikt getötet wurden, sind das nur Zahlen und Fakten - der persönliche Zugang fehlt. Deshalb ist es wichtig, Geschichten von echten Menschen, echten Körpern und echten Traumata zu hören. Meine Geschichte ist eine, die auch von jedem anderen Kind in Sarajevo stammen könnte.

daStandard.at: Ihr Tagebuch "Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo" war ein internationaler Bestseller und wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Wie würden Sie Ihr Leben vor und während des Krieges beschreiben?

Filipović: Vor dem Krieg drehte sich bei mir alles um MTV, Madonna, Tennis und Klavierstunden. Ganz plötzlich veränderte sich alles und wurde zu dieser bizarren, postapokalyptischen, fast mittelalterlichen Existenz - ein Leben ohne Wasser, Nahrung und Heizung. Jeden Tag fielen bis zu 900 Bomben auf die Stadt. Wir konnten nicht zur Schule oder zur Arbeit, mussten in die Stadt zu einer Pumpe gehen, um Wasser zu holen. Wir waren auf humanitäre Hilfe angewiesen. Jeden Tag hörten wir von Bekannten, die verwundet oder getötet wurden, jeden Moment hätte jemand aus meiner Familie getötet werden können. Ich lebte mit dieser ständigen Angst. Das Schlimmste war, nicht zu wissen, ob es jemals zu Ende sein wird. Ich begann bereits vor dem Krieg damit, ein Tagebuch zu führen. Als sich unsere Situation veränderte, schrieb ich einfach weiter. Plötzlich wurde es zum historischen Dokument über die Belagerung einer Stadt, in der ich nur eine von Tausenden war.

daStandard.at: Haben Ihre Eltern den Krieg kommen sehen?

Filipović: Nein, nie. Wenn man an Krieg denkt, glaubt man immer, es passiert nur anderen. Ich dachte damals auch: Kriege passieren nur in Afrika, im Nahen Osten oder in ferner Vergangenheit. Wir lebten in einer Realität, in der sich jeder gut verstand. Und als der Krieg dann da war, hat niemand geglaubt, dass er lange andauern würde.

daStandard.at: Wie haben Sie es geschafft, Sarajevo mit Ihren Eltern zu verlassen?

Filipović: Wir konnten das Land nur wegen des Tagebuchs verlassen. Damals konnte die Zivilbevölkerung nicht hinaus - außer durch die Tunnel, die gegraben wurden. Das Tagebuch wurde in Frankreich veröffentlicht, und der Herausgeber hat uns gemeinsam mit der französischen Regierung geholfen zu flüchten. Wenn es das Tagebuch nicht gegeben hätte und der Herausgeber uns nicht unterstützt hätte - wer weiß, ob ich noch am Leben wäre.

 

BBC-Reportage über Zlatas Familie während des Krieges.

daStandard.at: Danach folgten für Sie und Ihre Familie eine kurze Zeit in Paris und viele Reisen. Wie war diese Zeit für Sie?                      

Filipović: Vier Monate lang sprach ich mit Schulen, mit Medien, mit Regierungsmitgliedern auf der ganzen Welt. Sogar Bill Clinton lernte ich kennen. Es war verrückt: Nach der schrecklichen Zeit in unserem Haus mit minus 15 Grad ohne Heizung kamen wir plötzlich nach London, New York, Bonn. Woran ich mich jedoch am besten erinnere, sind die Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden. Ich fühlte eine Verbundenheit mit ihren Schicksalen, die schwer zu beschreiben ist. Doch ständig fühlte ich mich schuldig: Warum konnte ich dem Krieg entfliehen und meine beste Freundin, die so gut malen konnte, nicht? Ich versuchte dann, für alle zu sprechen, die zurückgeblieben sind. Es war meine Pflicht, die aber auch sehr ermüdend war. Ich war schließlich erst 13.

daStandard.at: Wie würden Sie Bosnien vor und nach dem Krieg beschreiben - was ist der größte Unterschied?                                         

Filipović: Viele Leute haben das Land verlassen, einschließlich mir. Und immer mehr gehen, auch heute. Die Bevölkerung ist eine andere geworden. Das Schlimmste ist sicherlich das Wiederaufleben der Religion. Dein Name und deine Religion spielen eine viel zu große Rolle. Die traurige Wahrheit ist, dass auch ich heute unfreiwillig Menschen so einteile, weil es sich in den Köpfen festgeschrieben hat. Bosnien ist eingefroren in einem Moment eines nicht endenden Konflikts.

daStandard.at: Sie leben heute in Dublin. Was vermissen Sie heute an Ihrer alten Heimat?                                         

Filipović: In Sarajevo habe ich ein Gefühl des Zuhauseseins und der Zugehörigkeit, das ich in Dublin nie finden würde. Es nervt mich, in Dublin ständig zu erklären, woher ich komme, und es ist schön, wenn die Verkäuferin in Sarajevo weiß, wie man meinen Namen schreibt. Ich vermisse die Art des Kommunizierens und die Sprache. In Irland existiere ich erst seit 17 Jahren, in Sarajevo gibt es meine Familie seit über 100 Jahren.

daStandard.at: In einem Interview sagten Sie im vergangenen Jahr: "Bosnien wird als schwarzes Loch in der Mitte Europas liegen gelassen." Was haben Sie damit gemeint?                                         

Filipović: Jedes Land im ehemaligen Jugoslawien will in die EU, und es sind alle auf einem guten Weg - außer Bosnien. Bosnien scheitert leider kontinuierlich an den Kriterien. Ich hoffe einfach, dass es nicht in der Isolation verharrt.

daStandard.at: Ist es für Sie schwierig, immer wieder an den Krieg denken und darüber reden zu müssen?                                        

Filipović: Es ist das einzige Mittel, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Denn bereits für die Kinder heute fühlt sich der Bosnienkrieg wie eine sehr alte Geschichte an und damit weit entfernt von ihren Lebensrealitäten. Das können Biografien wie meine ändern. Denn die Art, wie das Leben Geschichten erzählt - das kann keine Fiktion nachmachen. (Jelena Gučanin, daStandard.at, 11.2.2013)