Perspektivenvielfalt, Zeitpanorama und die Wurzel der Vergangenheit: Robert Schindel.

Foto: Marko Lipuš

Viele Fenster gehen auf den Heldenplatz. In dem ebenso umfang- wie einfallsreichen Roman Der Kalte steht immer wieder der Kanzler oder der Bundespräsident mit dem Rücken zur Macht und schaut auf diese Stätte hinunter, in der sich österreichische Geschichte konzentriert findet.

Robert Schindel nimmt sich erneut der "Waldheim-Jahre" 1985 bis 1989 an. Seine Einbildungskraft führt hinter die Kulissen und gibt ein literarisches Bild jener Zeit, die hierzulande als Zäsur gelten mag: Staatsoberhaupt Kurt Waldheim als einer, der im Krieg der Nazis "nur seine Pflicht erfüllt" habe; der Rücktritt von Bundeskanzler Sinowatz und das Ende der Koalition mit der FPÖ; der Aufstieg Jörg Haiders; erstmals eine breite Debatte über die NS-Vergangenheit - dazu der Konflikt um Hrdlickas Antifaschismusdenkmal und dann die Auseinandersetzung um das Burgtheater von Claus Peymann bei der Aufführung von Thomas Bernhards Stück Heldenplatz.

Zwei Jahrzehnte nach seinem zur selben Zeit spielenden Roman Gebürtig setzt Schindel tatsächliche Vorgänge und Figuren in Erzählung um, stellt sie als Geflecht wechselnder Beziehungen dar. Er schildert die Epoche unter Verwendung anderer Namen (Waldheim heißt Wais, Sinowatz Marits, Peymann Schönn, Bernhard Muthesius, Hrdlicka Krieglach) und verdichtet sie in komplexen Charakteren.

Wiederkehr des Barbarischen

Es sind ein paar Gruppen von Politikern, Journalisten, Künstlern, die in Wien alles zu richten versuchen. Sie verstricken sich in drei "Kulturkämpfe", in denen es um den neuen Präsidenten und die "Opfertheorie", um ein Denkmal und um "die Burg" geht.

Im Zentrum der Handlung steht Der Kalte, ein Spanienkämpfer und Auschwitz-Überlebender, der unermüdlich warnend gegen die "Wiederkehr des Barbarischen" redet. Ein "offenes Ohr konnte Edmund Fraul nur denjenigen leihen, die sich ernst und entschlossen dem Vergangenen stellten und damit - wie er selbst - die Gegenwart durchdrangen." Ansonsten emotional kühl, versteht er seinen Sohn, den Burgtheatermimen Karl, nicht, lebt er neben seiner Frau Rosa, zwei Opfertypen als Ehepaar: "Sie war und blieb eine unpolitische Jüdin, die unverschuldet zu ihrem Schicksal gekommen war, indes er doch als Kämpfer gegen das Unrecht selbstverständlich sein Schicksal auch herausgefordert hatte."

Beide werden von Träumen heimgesucht, die sie nie aus dem Lager entkommen lassen. Und als Edmund Fraul einen ehemaligen KZ-Aufseher trifft, geraten seine Bestimmtheit und "Herztaubheit" ins Wanken. Die beiden Männer beginnen sich gegenseitig aus dem je anderen Rückblick von der extremsten anderen Seite des Daseins ihre Geschichten von Auschwitz zu erzählen.

Gefühllosigkeiten

Die Vielfalt der Perspektiven bestimmt wesentlich das narrative Konzept des Romans. Es gelingt Schindel, ein nachvollziehbares, packendes Zeitpanorama mit feinen Leitmotiven (Fenster, Herz, Traum) zu schaffen und in allem Geschehen die Wurzel der Vergangenheit zu zeigen. Er ordnet sowohl eine übergreifende personale Er-Erzählung als auch insgesamt sieben Ich-Perspektiven an, die sich teils im Stil unterscheiden: die Journalisten, die Schauspieler, das Tagebuch eines Jugendlichen und der etwas gespreizte Bericht einer Turnusärztin, die an der Gefühllosigkeit ihres Geliebten Karl Fraul zugrunde geht.

Sie alle treiben Machtspiele, ob öffentlich oder privat, um Einfluss, Liebe und Sex; in diesen Ichs schlagen Emotionen auf die Sprache durch. Alle sehen sie sich auf einer inneren und einer äußeren Szene. Die einen plagt die Erinnerung, die anderen sind im Vergessen geübt. Das ganze Land als Bühne und als "Stammlokal", in dem getrunken, geküsst, geschlagen wird; der Heldenplatz als Schau-Platz und zum öffentlichen Theaterdonner die Stücke im Burgtheater, wo Macbeth Diktatur, Grausamkeit, Machtmissbrauch verkörpert.

Robert Schindel lässt großartige Szenen erstehen; er hätte mitunter auf auserzählte Details verzichten können - enervierend die genau mit Straßennamen belegten Wege, als möge man mit Stadtplan lesen (sie " kehrte über die Weihburggasse, den Neuen Markt, die Plankengasse und Bräunerstraße zurück"). Ihm gelingen eindringliche Dialoge, einige allerdings wirken etwas ungelenk, besonders jene aus der Sicht der Ärztin, die sich um Überhochdeutsch bemüht. Und unnötig ist manches im langen Glossar am Ende, das "Polster" und "Kasten" erklärt, "Guadalajara" als Stadt in Spanien (es geht aus dem Text hervor), "Gregor Samsa" als Figur von Kafka und noch dazu ein paar Mal Falsches behauptet, als heiße es "Esel Buridan" und nicht "Buridans Esel". Merkwürdig, dass ein Verlag sein Lesepublikum für so unbedarft hält.

Szenerie und Handlung verknüpft Schindel zunehmend mit Figuren und Vorgängen von Gebürtig, und so erfährt man hier, wie der "Schädelknacker Egger", der im vorigen Roman beim Prozess freigesprochene SS-Mann, endet. Beide Bücher geben ein vielschichtiges, literarisch wie gesellschaftlich interessantes Bild jener Bruchjahre, die bis heute " unsere Gegenwart durchdringen".

Die Waldheimat ist nicht überwunden. Der Kameradschaftsbund, der nach wie vor alle Wehrmachtssoldaten als "Verteidiger von Volk und Vaterland" bezeichnet, gibt immer noch auf dem Land den Ton an und trifft sich mit den Burschenschaften. "Ihr täuscht euch alle", sagt Der Kalte, "wenn ihr das Personal der Barbarei für historisch erachtet."   (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 9./10.2.2013)