Im Morgendunst des Marientags rücken die Rentiere zusammen. Beim Frühlingsfest der Samen spielen sie traditionellerweise eine tragende Rolle.

Foto: visitfinland.com / Antti Saraja

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Wer Helsinki zum Beispiel mit Finnair anfliegt, kommt überraschend gut nach Lappland weiter. Die Airline Flybe bedient den Flughafen Enontekiö in Hetta auch zur Zeit des Frühlingsfests. Der so-genannte Marientag - eigentlich sind es Marientage - wird 2013 von 15. bis 17. 3. gefeiert. Über die äußerst effiziente Touristeninfo vor Ort kann man auch Ausflüge in die Umgebung buchen. Unter anderem gibt es in Enontekiö mehr als 600 Kilometer präparierte Pisten für Schneemobile. Weitere Infos über Finnland und die Region erhält man bei der Länder-vertretung: www.visitfinland.com

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Über die zentrale Buchungsplattform der Hotels in Lappland findet man auch in Hetta eine nette Unterkunft: Das Hetta Hotel liegt direkt am Ounasjärvi-See, mitten im Wald, und ist prädestiniert für Ruhesuchende. Doppelzimmer ohne Frühstück sind ab 75 Euro zu haben. Vor allem zur Festivalzeit sind die Hotelzimmer aber meist früh ausgebucht. Eine Alternative stellen die zahlreichen Hütten dar, ausweichen kann man aber auch auf ein nahes Feriendorf. Infos über Preise und Kapazitäten gibt es ebenfalls bei der touristischen Zentrale der Region Enontekiö oder unter: www.finlandcottagerentals.com

Karen Anna Proksi hat es nicht leicht. Sie könnte sechs Hände gebrauchen, um all das auf einmal zu tun, womit sie gerade beschäftigt ist. In der Tracht der Enontekiö-Samen von Hetta hockt sie am offenen Feuer in der Kohta, dem traditionellen samischen Wohnzelt, das gleich neben dem tatsächlichen Wohnhaus der Familie an die Nomadenzeit erinnern soll. Dabei versucht sie, einige Artefakte aus Rentierknochen, Fell und bunten Stoffen fertigzustellen - "sámi duodji", samisches Kunsthandwerk, erklärt sie. Nebenbei demonstriert Karen auch noch die Funktionsweise einer Komse, der praktischen Kinderwiege der Samen, die gleichzeitig als Trage verwendet wird. Und sie muss natürlich ständig Holz nachlegen, damit das duftende Rentiergeschnetzelte im großen Kessel gar wird.

In einem ruhigen Moment nach dem Essen beginnt Karen schließlich zu erzählen, was uns morgen am Marientag, also beim Winterabschlussfest der Samen, erwartet: Aus fast allen Ländern Nordeuropas, aus Finnland, Norwegen, Schweden und inzwischen auch wieder aus dem russischen Murmanskgebiet werden die Samen zum Fest nach Hetta kommen.

Das dünnbesiedelte Kirchdorf ist Sitz der Gemeindeverwaltung von Enontekiö. Es liegt ganz im Nordwesten Finnlands - zwischen der schwedischen Grenze im Süden und der norwegischen im Norden - und verfügt über ein Gemeindegebiet mit stolzen 8000 Quadratkilometern. Demnach hat es fast die doppelte Fläche des Burgenlands. Seit Generationen treffen sich hier die Samen zum Marientag. Wie alt dieses Frühlingsfest ist - das im März definitiv zu früh für das Ende des Winters angesetzt wurde, verrät auch der Name: Mit der Marienverehrung haben die heute vorwiegend protestantischen Samen nichts im Sinn - das Fest geht in seinen Anfängen wohl auf Zeit vor der Reformation zurück.

Mit Pulkko zum Rentierpulk

Am Nachmittag lädt uns Oula Jomppanen, Karens Nachbar, zu einer Fahrt mit seinem Rentierschlitten ein. Wir sitzen, in weiche Felle eingepackt, hinter der weißen Renkuh Pulkko, Oula hält lässig die Zügel und ruft dem Tier ein unverständliches Wort zu. Pulkko trottet genauso gleichgültig dahin wie zuvor, der Atem tritt ihr in dichten weißen Wolken aus dem Maul. Ein wenig abseits der Holzhäuser von Hetta stehen weitere Rentiere im lichten Birkenwald und scharren das Futter mit ihren breiten Hufen unter dem Schnee heraus. Wenig später kehren wir ein. Oulas Freund erwartet uns am Feuer in seiner Kohta, serviert gebratene Fleischstücke und frisches Knäckebrot. Dazu gibt's heißen Lakkasaft, den Saft der Moltebeeren.

Wären wir nicht in Lappland, wir würden das, was uns da am Abend in der Aula des Gemeindehauses von Hetta erwartet, eine Trachtenmodeschau nennen: Einige Hundert festlich gekleidete Samen defilieren über den rauen Holzboden, es ist ein verwirrend buntes Farbenspiel. Denn obwohl die Grundfarben dieser Gewänder Rot, Dunkelblau und Gelb sind, haben sich in den einzelnen Bezirken ganz unterschiedliche Schattierungen, Nuancen und Kombinationen entwickelt. Reich müssen die Samen im Enontekiögebiet einst gewesen sein, ihre kostbar verzierten Kittel lassen darauf schließen. Viel einfacher sind dagegen die blau-roten Kittel der Besucher aus dem Inarigebiet ganz im Norden Finnlands.

Immer wieder bitten nun Ansagerinnen Vertreter der einzelnen samischen Volksgruppen in ihren völlig unterschiedlichen Trachten auf die Bühne - ein kurzweiliges ethnografisches Quiz auch für all jene, die kein Samisch oder Finnisch verstehen: In langen weißen Fellmänteln kommen die Samen aus dem norwegischen Karasjok auf die Bühne. Ihre Nachbarn aus dem Gebiet von Kautokeino - ebenfalls in Norwegen gelegen - weisen hingegen sichtbare Verwandtschaft in der Tracht mit den nahen Enontekiösamen auf. Auch bei ihnen fallen die reichen Silberapplikationen auf, mit denen die Gewänder der Frauen geschmückt werden.

Am Sonntag in der Früh setzt sich das Spiel der tausend Farben beim Kirchgang fort. Von allen Seiten kommen die Besucher zur hoch gelegenen Kirche von Hetta, die Frauen vielfach in kräftig kolorierte Umschlagtücher gehüllt. Der Pfarrer predigt hier zweisprachig: samisch und finnisch. Und selbst wer keine der beiden verwandten Sprachen versteht, wird Unterschiede hören. Das Samische klingt mit seinen vielen Zischlauten deutlich härter als das durch zahlreiche Doppelvokale geprägte Finnische.

Nach dem Kirchgang herrscht am Marientag stets Volksfeststimmung, eine witzige Mischung aus Kirtag und Fasching. Wiewohl: Eine Verkleidung trägt hier eigentlich niemand, es sei denn, man betrachtet auch Loden und Gamsbart mancher Älpler als solche. Entlang der Dorfstraße wurden unzählige Verkaufsstände aufgestellt. Vor allem Lebensmittel werden feilgeboten, aber auch Wäsche, Werkzeuge und Haushaltsartikel. Tatsächlich scheinen sich hier die Kunden um diese Waren noch zu reißen, deren Verkäufer ebenfalls aus Finnland und den umliegenden Ländern den weiten Weg bis nach Hetta kamen. Über allem klingt ein wenig blechern Musik aus den strategisch schlau angebrachten Lautsprechern.

Frühling aus dem Lautsprecher

Auf der dicken Eisdecke des Ounasjärvi-Sees herrscht inzwischen Hochbetrieb. "Von wegen Frühlingsfest!", denken wir uns: Die Kälte beißt in der Nase. Auch hier erfüllen die zahlreichen hoch angebrachten Lautsprecher eine zentrale Aufgabe: Es kommen die ersten Ansagen, wir tippen auf Samisch. Unterdessen werden aus einem provisorischen Stall Rentiere herausführt, eines nach dem anderen, und vor die Schlitten gespannt. Das ist nicht einfach, Rentiere sind stark wie Bären und dabei störrisch wie Esel. Zwei Männer müssen jeweils ein Tier bändigen, wenn es sich auf die Hinterläufe stellt und in die Höhe springt, ein dritter streift das Zaumzeug über. Die Schlittenfahrer, junge Burschen, stehen nur erwartungsvoll daneben.

Auf ein Zeichen hin werfen sie sich bäuchlings auf die Schlitten, einer nach dem anderen, fassen die Zügel und schießen los. Mit wilden Sprüngen versuchen die nun wahrhaft zu Renntieren gewordenen Rentiere die vorgespurte Bahn zu verlassen. Immer wieder fliegt ein Rennfahrer in den Schnee, kann sich nicht mehr auf dem Gefährt halten. Die Zuschauer johlen. Doch dabei zu sein ist wohl auch hier alles.

Nach dem Rennen sind die Lassowerfer dran. Früher mussten ebenfalls Rentiere als Übungsobjekte für die Geschicklichkeit der Werfer herhalten. Heute hat man dafür vernünftigerweise einfach Pfähle ins Eis gerammt. Vor allem Frauen - junge und alte - versuchen ihr Glück bei diesem Wettbewerb. Wir sehen auch Karen wieder, sie feuert ein Mädchen an, als es das Lasso geschickt um den Kopf wirbelt und losschleudert. Erst später erfahren wir, dass es Karens Tochter Liisa war. Zum Sieg hat es nicht gereicht, doch die Mutter ist stolz.

Vor Jahren noch seien deutlich mehr Teilnehmer zu den Wettkämpfen gereist, hören wir am Abend in der Bar des Hotels Hetta. Hat es die Wirtschaftskrise gar bis nach Lappland geschafft? Wir können es uns nicht so recht vorstellen, denn hier findet die Fortsetzung des Wettkampfes in seiner kostspieligsten Disziplin statt. Auch unser Schlittenführer ist unter den Kämpfern, seinem Aussehen nach muss er sehr lange und sehr intensiv aufgewärmt haben. Wodkaflasche um -flasche auffahren zu lassen, ist jedenfalls überall in Finnland der teuerste Spaß der nordischen Bewerbe.

Manchen wird der Wettkampf bereits ein wenig zu laut. Sie verlassen die Bar, gehen an jene frische Luft, die es wohl nur mehr jenseits des nördlichen Polarkreises ermöglicht, die Sterne so hell funkeln zu lassen. Und dann gibt es tatsächlich noch ein weiteres Farbenspiel - völlig außer Konkurrenz. Diesmal sind es nicht die prächtigen Gewänder der Samen, die zwei Tage lang zu sehen waren. Es ist die Aurora borealis, das Polarlicht mit seinen vielen Lichtbändern, das wie ein Scheinwerfer den Weg nach Hause erhellt. (Christoph Wendt, DER STANDARD, Album, 2.2.2013)