Vorsicht, Verletzungsgefahr! Die unbedachte Verwendung einer kränkenden Bezeichnung für diese Süßspeise kann schwere Nebenwirkungen provozieren.

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Dieser "Herrenwitz" kam an. Nach der Bloßstellung der über ein Jahr zurückliegenden weinseligen verbalen Übergriffigkeit des FDP-Politikers Rainer Brüderle brachen im Netz alle Dämme. Über 60.000 Menschen verschickten in den letzten Tagen unter dem Schlagwort "Aufschrei" Twitterbotschaften, die eigene diskriminierende Erlebnisse schilderten. Die Twitterin Anne Wizorek, die den Köder "#aufschrei" ausgeworfen hatte, avancierte zum Star der Blogosphäre.

Symptomatisch an dieser Debatte ist die Art und Weise, wie sie zwischen alten und neuen Medien hin- und herschwappt. Der Aufschrei-Chor hallte innerhalb weniger Stunden in Onlineräume wie spiegel.de oder zeit.de hinein. Da dort Texte mit Facebook und Twitter verknüpft sind und von Lesern weiterempfohlen werden können, entstand ein Rückkoppelungseffekt zwischen professionellem Journalismus und privaten Mitteilungen. Die Printmedien zogen nach und analysierten in ihren Wochenendausgaben das Thema Sexismus.

Am Sonntagabend erreichte die Empörungswelle die Couchlandschaft der deutschen TV-Talkshows. ARD-Moderator Günter Jauch diskutierte mit Alice Schwarzer, der Internetaktivistin Wizorek und dem Literaturkritiker Hellmuth Karasek - worüber eigentlich? Am Dienstag zog Markus Lanz im ZDF nach. "Haben wir ein verdecktes Sexismus-Problem?", fragte Lanz. Die Antwort blieb so vage wie die Frage. Was also ist die Story? Eine schlüpfrige Prominenten-Anmache an der Bar wäre gerade einmal eine kurze Meldung wert. Die Journalistin hätte die Möglichkeit gehabt, unverzüglich mit der Veröffentlichung der Begegnung mit dem damals noch nicht so medienrelevanten Politiker zurückzuschießen, und dann wäre wohl Schluss gewesen. Hätte sich das Nachrichtengeschäft unter dem Druck neuer Medien nicht verändert.

Heute rutschen Printredakteure nervös auf ihren Sesseln herum, wenn sie die hunderten Postings unter Onlineartikeln sehen. Müssen wir jetzt auch was machen? Zumindest ein Twitterkonto, um auf meinen Artikel zu verweisen? Digitale Resonanz bekommen auch im Feuilleton vor allem Themen wie Rassismus und Sexismus. Themen, zu denen jeder eine Meinung hat und von denen sich jeder in irgendeiner Form betroffen fühlt: bedrängt, zensiert oder empört und gekränkt.

Über "Mohr im Hemd" und das N-Wort

Die Umbenennung der Süßspeise "Mohr im Hemd": 1500 Postings. Die Geschichte über das N-Wort in Kinderbüchern bekommt im Handumdrehen das Prädikat "meistgelesen". Die fundierte Rezension oder der Bericht über den EU-Gipfel hingegen: unter "ferner liefen". Nicht die Sachlichkeit einer recherchierten Story treibt die für Inseratenkunden wichtige Klickzahl in die Höhe, sondern der Expressionismus des Aufschreis.

Die 140 Zeichen eines Tweets würden ausreichen, um den Sachverhalt des Stern-Artikels darzustellen. Zehntausendfach erhitzt, bringt das journalistische Häppchen die reflexiven Schutzwälle der alten Medien zum Einsturz. Schritt für Schritt passen sich auch die gedruckten Feuilletonseiten dem Populismus von Bild und Krone an, die auf rührende Weise verlorenes Terrain zu gewinnen versuchen: "Wenn eine Frau unterdrückt oder diskriminiert wird, dann ist es Sexismus", fasste die Managerin Nadja Atwal ("Sexiest Powerwoman of all Time") in der Bild- Zeitung das Thema trefflich zusammen; es reichten ihr 72 Buchstaben.

Mittlerweile vergeht keine Woche ohne Aufschrei. Dem Fall Brüderle ging die Erregung über den "Negerkönig" bei Pippi Langstrumpf voraus. Dann die Empörung über den angeblich antiislamischen Lego-Bausatz "Star Wars" und die angeblich antisemitische Grundierung der Kinderbücher Christine Nöstlingers. Der mit freiem Auge nicht auszumachende Flächenbrand der türkisch-islamischen Erregung schaffte es auf die Titelseite der Gratiszeitung Heute und in die Kommentarspalten von Presse und Standard. Ein polnischer Germanist dechiffrierte im Berliner Tagespiegel die antisemitischen Untertöne Christine Nöstlingers, die bisher noch niemand gehört hatte.

Das alles geschah in ferner Zeit, nämlich letzte Woche. Und wer erinnert sich noch an das wochenlange Gefecht über die Frage, ob eine religiös motivierte Beschneidung männlicher Babys einer weltlichen Verfassung entspreche? Das Papier brannte gut, aber kein Holz nährte dann das Feuer des politischen Streits. Der Begriff Beschneidung trifft den Kern aller mit Political Correctness verknüpften Debatten. Was die einen als Einschnitt in ihre Rede-, Religions- und Konsumfreiheit empfinden, ist für die anderen die Modernisierung eines als rückschrittlich empfundenen Brauchtums, für das es die Klinge anzusetzen gilt. Etwa, indem man den Lesefluss durch ein Binnen-I unterbricht oder den "N...-Kuss" aus dem Supermarktsortiment wirft.

Natürlich hat der Einwand seine Berechtigung, es handle sich bei den PC-Themen um Luxusprobleme einer satten Gesellschaft. Die Einschnitte in Staatshaushalte und Börsen der Bürger sind bedeutsamer als die Eingriffe in deren seelischen Haushalt, möchte man meinen. Der Hass auf politische korrekte "Beschneidungen" ist allerdings auch der beste Beweis dafür, dass die Empfindungen des Gemüts längst nicht mehr in die "dumpfe Region des Geistes" (Hegel) aussortiert werden, wie dies westliche Denktraditionen versucht haben.

Nüchterne Gesetze ermöglichen es heute Frauen, sich gegen - auch verbale - Herabwürdigungen und Ungleichbehandlungen zu wehren. Gendersensible Maßnahmen gehören zur Planung des öffentlichen Raums, in Schulen, Betrieben und Universitäten wurden Beschwerdestellen eingerichtet, Compliance-Regeln strukturieren den Umgang in modernen Betrieben. Keine Quotenregelung kann aber verhindern, dass das Nachpfeifen auf der Straße nicht als Kompliment, sondern als degradierend, oder bestimmte Blicke in der U-Bahn nicht als erotische Selbstbestätigung, sondern als zudringlich empfunden werden. Genauso wie auch kein Antidiskriminierungsgesetz verhindern kann, dass nicht nur das N-Word, sondern auch ein für viele als harmlos geltender Begriff wie Schwarzfahren als diskriminierend interpretiert wird.

Gleichwohl bleibt der Grat zwischen allgemein nachvollziehbaren, gesellschaftlich sanktionierten Verletzungen und einem narzisstisch überspannten Wiederholungszwang der Empörung schmal. Zudem ist das Machtverhältnis zwischen Opfern und Tätern, wie gerade der Fall Brüderle zeigt, kompliziert geworden. Der Politiker war nicht nur übergriffig, sondern erschien schon in der fraglichen Nacht als Karikatur des Altherrenmachos; sogar seine eigene Pressesprecherin merkte das und schickte ihn ins Bett.

"Express Yourself"

Was früher vielleicht als Kavaliersdelikt durchgegangen wäre, ist nun geächtet. In diesem von nur wenigen als Neoprüderie verdammten Fortschritt steckt auch ein gesellschaftspolitisches Paradoxon: Je demokratischer die Gesellschaft, desto undemokratischer fühlt sie sich für manche an. Das Versprechen von Gleichwertigkeit und Achtung des Individuums nährt die Sensibilität für dessen Verfehlung. Die Liberalisierung der Sitten und der bezeichnenderweise von Madonna aufgegriffene Slogan "Express Yourself" haben etwa zur weltweiten Ausbreitung der karnevalistischen Slutwalks geführt. Diese propagieren die Unverfügbarkeit des weiblichen Körpers - auch und gerade wenn dieser in Posen und Kleider gehüllt ist, die mit der Verfügbarkeit der Frau als Objekt kokettieren. Man kann darin nicht nur das Kippmoment von Selbstbestimmtheit und Narzissmus erkennen, sondern auch die Konfliktzonen mit anderen Identitäts- und Freiheitsentwürfen erahnen: Nicht nur mein Körper, sondern auch die Wahrnehmung meines Körpers gehört nur mir; egal wo ich bin, im Büro, im Stephansdom oder vor der neuen Moschee.

Sexistinnen und Feministen, Tugendwärter und Tugendterroropfer formulieren ihre Proteste unter dem Direktorium desselben gesellschaftlichen Ideals der individuellen Autonomie. In einer Gesellschaft der entgrenzten Therapie dehnt sich der Bereich des als verletzend Empfundenen aus. Das vermag auch nicht auszuschließen, dass alte Gegner unter einem gemeinsamen Leiden zusammenfinden. So gilt längst auch die Religionsfreiheit nicht mehr nur als Feind der Meinungsfreiheit, sondern eben auch als Freiheit, die unter verletzenden Meinungen leiden darf.

Sexismus- und Zensuropfer, Rassismusgegner und die Freunde eines Dirndldekolletés finden in der Sensibilität für kleine und kleinste Benachteiligungen zusammen. Der als Leitwährung des Opferwettbewerbs gehandelte Aufschrei verdrängt weniger impulsgesteuerte Botschaften, etwa den Bericht über die Landwirtschaftssubvention oder die Gesundheitsreform. Das Schlagwort "#pensionsreform" sucht man auf Twitter umsonst. Parallel schreitet hoffentlich nicht nur die Debatte über das bedrückende Frauenbild in Indien voran, sondern leider auch das Zeitungssterben. In den USA haben Städte wie Detroit oder New Orleans keine Tageszeitung mehr. Missstände, die sich nicht über Empörungswellen beheben lassen, sondern nur über hartnäckige Recherchen, werden mehr und mehr vernachlässigt. Wenn diese noch stattfinden, dann im Schatten der Suchscheinwerfer ich-gläubiger Blogger und Twitterer. (Thomas Edlinger, Matthias Dusini, DER STANDARD, Album, 2./3.2.3013)