Ferdinand Schmatz, exemplarischer Dichter der sogenannten "Avantgarde", als Gegenstand gelehrter Beweisführung.

Foto: Andrea Baczynski

Der Grad der Vernetzung, der ein künstlerisches Sprachgebilde auszeichnet, offenbart sich dem Kenner in der Art eines Prozesses. Das erinnert an Kleists ,Zerbrochnen Krug'.

Der aus Korneuburg gebürtige, in Wien lebende und arbeitende Dichter Ferdinand Schmatz feiert morgen Sonntag seinen 60. Geburtstag. Das passende Geschenk hat ihm der Klagenfurter Ritter-Verlag schon vor ein paar Wochen gemacht. Dichte ich in Worten, wenn ich denke?, so der Titel einer mehr als sechshundert Seiten umfassenden Studie zu Schmatz' Werk, muss dem Jubilar den Postkasten gesprengt haben.

Kaum einem Dichter widerfährt eine ähnliche Würdigung zu Lebzeiten. Schmatz erfreut sich dem Vernehmen nach bester Gesundheit. Sein Werk umfasst bis zum heutigen Tage rund 20 Titel. Es steht zu Recht im Ruf, das bloße Genießertum des gelegentlichen Poesie-Konsumenten zurückzuweisen. Anders gesagt: Schmatz ist im Hauptberuf "Dichter". Er ist dies im emphatischen Sinn des Wortes. Seine Arbeit hat mit dem gedanklichen Erbe der Wiener Gruppe zu tun; aber eben nur in dem Sinn, wie die Beschäftigung mit deren Schriften das Augenmerk auf " Sprachphilosophie" lenkt.

In Wahrheit gehört Schmatz bereits zur Enkelgeneration von Oswald Wiener, Konrad Bayer oder Gerhard Rühm. Seinen "Ziehvater" mag man in Reinhard Priessnitz (1945-1985) erkennen. Dessen Schriften gab Schmatz posthum heraus. Das Problem besteht nun darin, dass die Arbeiten Priessnitz', voran dessen berühmte vierundvierzig gedichte, unter Dichtern und Wissenschaftern, die sich mit poetologischen Fragen beschäftigen, im Range einer geoffenbarten Schrift stehen.

Dieser Feststellung eignet nichts Despektierliches. Wer einen noch so kurzen Text von Priessnitz liest, bekommt eine ganze Weltdeutung um die Ohren geschlagen. In diesen Gedichten - wie auch in denen von Ferdinand Schmatz - ereignet sich eigentlich Unerhörtes. Die Bestandteile der Sprache: ihre Laute und Bedeutungseinheiten setzen sich wie lange Ameisenkolonnen auf dem Papier in Marsch. Sie "meinen" wohl etwas. Sie tun nur den Teufel und übermitteln keine "Inhalte" und kein "Gemeintes", jedenfalls nicht in der philiströsen Bedeutung der Begriffe oder so, wie man einen Zeitungsartikel in Schlagworten wiedergibt.

Texte wie diejenigen von Ferdinand Schmatz stellen am ehesten etwas her: So lautet auch das Credo des Berliner Literaturwissenschafters Sebastian Kiefer (51). Sie sind Sprachkunstwerke. Sie sprechen nicht leichtfertig " über die Welt", sondern bilden die vielfältigen, auch nichtsprachlichen Weisen, in denen wir Welt verstehen und herstellen, modellhaft ab.

Kiefer lässt es bei dieser Feststellung keineswegs bewenden. Die exakte Erforschung der Bewusstseinsfunktionen während des Sprechens bildet einen Wissenszweig für sich. Dieser setzt bereits beim frühkindlichen Spracherwerb an. Das "Verstehen" von Sachverhalten ist nichts, was uns in Briefumschlägen ausgehändigt wird, deren Beschriftung wir entziffern.

Umgekehrt vermag keine Gelehrsamkeit der Welt zu begründen, warum uns gewisse Verse plausibel erscheinen oder warum sie ästhetisches Wohlgefallen erregen, andere hingegen nicht. Natürlich müsste man - gegenüber wem eigentlich? - erläutern können, warum etwas so zu lauten habe und nicht anders. In Kiefers Begründungszusammenhängen geht es jedoch um mehr. Der kleinste Laut, der beiläufigste Akzent in Wortstellung, Versdramaturgie oder lautlicher Führung muss sich gegenüber dem großen Ganzen bewahrheiten.

Dem Anspruch nach sind Gedichte Gebilde, die zum überlieferten Erbe der Poesie in eine unausgesprochene Beziehung treten. Ferdinand Schmatz' Texte tun dies auf die denkbar diskreteste Weise. Ihr Anspielungsreichtum wird auf keiner "inhaltlichen" Ebene nutzbar gemacht. Er soll sich, im Wege einer verstehenden, nachvollziehenden Lektüre, als prozesshaftes Geschehen erschließen lassen.

Der Grad der Organisiertheit oder Vernetzung, der ein künstlerisches Sprachgebilde auszeichnet, offenbart sich dem Kenner in der Art einer Prozessführung. Das erinnert an Kleists Zerbrochnen Krug: Ein Gerichtsrat blickt dem Dorfrichter ungebeten auf die Finger. Dieser ist tunlichst darum bemüht, den Stab nicht über sich selbst zu brechen. Natürlich kann alles gegen ihn verwendet werden. Entrinnen gibt es für ihn in Wahrheit keines.

Ein so staunen-, ja ehrfurchtgebietendes Buch wie dasjenige Sebastian Kiefers hebt das Maßstäbe setzende Werk Ferdinand Schmatz' - dessen letzter Gedichtband bezeichnenderweise quellen (2010, verlegt bei Haymon) hieß - auf den denkbar höchsten Sockel. Ihm zugrunde liegt der Glaube, dass es ein Dichten geben müsse, das vollkommen bodenlos ist. Es wäre fluide und fest, prozesshaft und gesteuert zugleich. Das Tun eines Dichters erschiene diesem selbst komplett plausibel. Zugleich müsste er von einer Überraschung zur nächsten taumeln. Er wäre die Sphinx, die sich selbst mit neuen Fragen immer wieder überrascht. Man würde dergleichen Ferdinand Schmatz gerne wünschen - wenn er es denn will. (Ronald Pohl, Album, DER STANDARD, 2./3.2013)