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Der türkische Ministerpräsident Erdogan.

Foto:AP/dapd

Ankara/Peking/Moskau - Recep Tayyip Erdogan hat die Nase voll von Europa. Mit seinem öffentlichen Nachdenken über ein Ende der türkischen EU-Bewerbung legt der türkische Premier die Zerrüttung des türkisch-europäischen Verhältnisses offen. Euro-Krise, innerer Streit und Scheinheiligkeit in den Türkei-Verhandlungen haben das Ansehen der EU ramponiert, gleichzeitig wächst das Selbstbewusstsein Ankaras.

Viele Europäer dürften froh sein, dass die Türken von sich aus zu erkennen geben, dass sie keine Lust mehr haben auf die EU. Doch Erdogans Gedankenspiele sind auch ein Anzeichen für einen Bedeutungsverlust der EU auf internationaler Ebene.

"Shanghai Five"

Erdogan sagte im Fernsehen, er habe den russischen Präsidenten Wladimir Putin um die Aufnahme seines Landes in die "Shanghai Five" gebeten, die für Russland, China und einige zentralasiatische Staaten eine Plattform für die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit bieten. "Dann sagen wir der EU auf Wiedersehen", sagte er.

Erdogan ist bekannt für verbale Paukenschläge, denen nicht unbedingt handfeste politische Entscheidungen folgen. Seine europakritischen Signale, die nicht zuletzt an die eigene konservative Wählerschaft gerichtet waren, sind nicht unbedingt Vorboten eines offiziellen EU-Ausstiegs der Türken.

Bedeutsam sind die Äußerungen dennoch. Erdogan weiß, dass sich die Türkei seit Jahrzehnten nach Aufnahme in den Verein der westeuropäischen Demokratien sehnt, weil sie darin die Erfüllung eines staatspolitischen Traums sieht, die Vollendung einer Vision von einer modernen und rechtsstaatlichen Republik.

Neue Rollenverteilung

Doch das kümmert ihn nicht, und das ist das Wichtige an Erdogans Vorstoß: Aus türkischer Sicht hat sich die Rollenverteilung zwischen EU und Türkei grundlegend geändert. Bisher war es so, dass Ankara als Antragsteller bei der EU anklopfte und sich zur Erfüllung eines Kriterienkataloges verpflichtete. Türkei unten, EU oben.

Doch das türkische Wachstum, der mit der Euro-Krise verbundene Ansehensverlust der Europäer und vor allem die Heuchelei der EU in den Verhandlungen mit der Türkei haben das geändert. Obwohl die EU im Jahr 2005 einstimmig die Beitrittsverhandlungen mit Ankara beschloss, geben wichtige Mitgliedsländer wie Deutschland und Frankreich seither den Türken immer wieder zu verstehen: Ihr werdet nicht Mitglied, und wenn ihr euch auf den Kopf stellt.

Yavuz Baydar, türkischer Kolumnist und Erdogan-Kenner, sieht in dieser Haltung der EU und dem gleichzeitigen Aufstieg der Türkei als Wirtschafts- und Regionalmacht das wichtigste Motiv für Erdogans Ankündigungen. Der Ministerpräsident habe einem Gefühl der Frustration Ausdruck gegeben, schrieb Baydar in der "Huffington Post": dem Frust darüber, dass Europa die Türkei, ein Mitglied der G-20 und die Nummer 16 der Volkswirtschaften in der Welt, "wie ein Land zweiter Klasse und in seinen Augen wie einen Aussätzigen" behandele.

Erdogan weiß Wähler hinter sich

Die meisten türkischen Wähler denken laut neuen Umfragen wie Erdogan: Eine Mehrheit lehnt inzwischen eine Fortsetzung der EU-Bewerbung ab. Die Unterstützung für das Ziel des Beitritts ist innerhalb von zehn Jahren von mehr als 70 Prozent auf etwa 33 Prozent geschrumpft.

Bisher haben sich die europäischen und atlantischen Partner der Türkei nur sehr zurückhaltend zu Erdogans Überlegungen geäußert. Die US-Regierung ließ erklären, Erdogans Pläne für einen Beitritt zu den von China und Russland dominierten "Shanghai Five" seien "interessant", NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sieht erst einmal keine unüberwindlichen Widersprüche zwischen der Mitgliedschaft der Türkei im westlichen Verteidigungsbündnis und einer Annäherung an das chinesisch-russische Bündnis.

Möglicherweise nimmt der Westen die Signale aus Ankara nicht ernst. Europäische Diplomaten in Ankara konnte Erdogan jedenfalls nicht beeindrucken - sie verweisen auf die nach wie vor entscheidende Bedeutung der EU für die Türkei. Wohl auch deshalb legten die Türken inzwischen noch einmal nach. Nach Angaben des Außenministeriums strebt Ankara bei den "Shanghai Five" den Aufstieg vom "Dialogpartner" zum "Beobachter" bei der Gruppe an. "Wir wollen unsere Zusammenarbeit mit der Organisation ausbauen", sagte ein Ministeriumssprecher. (Von Susanne Güsten/APA, 1.2.2013)