Konrad Paul Liessmann stützt in seinem Interview im STANDARD ("Religionen sind ja keine Anleitung zum guten Leben", 26.1.2013) einige seiner Argumente für einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler mit Behauptungen, die stark verkürzen oder falsche Gegensätze konstruieren und daher die Diskussion in eine Schieflage bringen.

Christliche versus philosophische Ethik

Der Hinweis darauf, dass die europäische ethische Tradition älter sei als die christliche, dient ihm dazu, einen Gegensatz zwischen christlicher und philosophischer Ethik aufzubauen. Liessmann stellt fest, dass "Ideen der Gerechtigkeit, Tugend, des rechten Maßes, des guten Lebens, des Glücks (...) alle Zentralbegriffe einer nichtchristlichen Philosophie" sind. Das stimmt zweifelsohne; aber es wird so getan, als ob diese Begriffe nicht zugleich auch Zentralbegriffe einer christlichen Ethik wären.

Um zu erkennen, dass eine solche Vereinnahmung falsch ist, genügt ein Blick in die maßgeblichen Texte christlicher Ethik, von den Kirchenvätern bis in die Gegenwart. Zudem wird so getan, als habe die jüdisch-christliche Tradition zur europäischen Ethik-Entwicklung nichts Positives beigetragen. Doch denke man nur an Begriffe wie Person oder Geschichtlichkeit, vom Begriff der Feindesliebe ganz zu schweigen.

Gutes Leben im Jenseits und Diesseits

Die Aussage, mit der das ganze Interview überschrieben wurde, dass nämlich Religionen "keine Anleitung zum guten Leben in einer offenen Gesellschaft" seien, dient in ähnlicher Weise zur Stilisierung des Gegensatzes zwischen abzulehnender christlicher und akzeptabler nichtchristlicher Moral. Es wird nämlich unterstellt, dass es Religionen nicht um das Leben jetzt, sondern bloß um Jenseitsvertröstung gehe. Liessmann bemüht Kierkegaard und behauptet: "Dem Christen geht es um die ewige Seligkeit, aber nicht um das glückselige, gute Leben hier."

Solche Sätze sind einseitig und verfälschen das Bemühen christlicher Tradition. Man lese etwa nur im Johannes-Evangelium nach, wo Jesus sagt, er sei gekommen, damit die Menschen das Leben, und zwar in Fülle, haben (Joh 10,10); oder man erinnere sich beispielsweise an das Hohelied der Liebe, wo die Schönheit des Lebens und der Liebe gepriesen wird. Auch ist es falsch zu behaupten, christliches Denken habe sich nicht darum bemüht, eigene Entwürfe für das Leben hier und jetzt und die dazugehörige Ethik rational auszuweisen und zu argumentieren.

Nur ein Beispiel: Die christlichen Debatten um das Naturrecht haben unmissverständlich aufgezeigt, dass es darum geht, christliche Ethik vor dem Forum der Vernunft zu verantworten. Darüber hinaus geht die Vorstellung, moralische Gebote würden im Christentum gleichsam vom Himmel fallen, an der Realität christlicher Normenfindung vorbei. Um dies einzusehen, brauchte man zum Beispiel nur die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanums zur Kenntnis zu nehmen oder sich vor Augen zu halten, dass in der Bibel keine Anweisungen zur Frage der Präimplantationsdiagnostik zu finden sind, es aber dennoch argumentierte christliche Positionen dazu gibt.

Religionslehrer können auch Ethik unterrichten

Was schließlich die Frage betrifft, ob Religionslehrerinnen und -lehrer berechtigt sein sollen, Ethik zu unterrichten, gesteht Liessmann zunächst zu, dass dies bei entsprechender Ausbildung möglich sein soll. Dann aber macht er sich über deren Gewissen Gedanken und meint, dass jene, die Religion unterrichten, im Ethikunterricht in Gewissenskonflikte kämen. Daraus folgert er in gut paternalistischer Manier, dass man Religionslehrerinnen und -lehrer solchen Spannungen nicht aussetzen solle.

Damit wird einerseits so getan, als seien Leute mit religiösem Bekenntnis Menschen zweiter Klasse. Einer solchen Position gegenüber ist festzuhalten, dass nach den Menschenrechten niemand aufgrund seines religiösen Bekenntnisses zu diskriminieren ist. Das sollte auch für den Unterricht in Schulen gelten.

Andererseits wird so getan, als ob im Ethikunterricht eine bestimmte ethische Auffassung zu verordnen sei. Denn wenn christliche Ethik dort keinen Platz hat, weil religiöse Menschen in Gewissensnöte gebracht werden können, möchte Liessmann diesen Unterricht offenbar weltanschaulich ausrichten. Zudem wird davon ausgegangen, dass religiös gebundene Lehrerinnen und Lehrer nicht vernünftig denken könnten oder dürften. Es sei nur darauf hingewiesen, dass es in Österreich gute und langjährige Praxis ist, dass viele, die Religion und ein zweites Lehramt studiert haben, neben Religion unter anderem Geschichte, Deutsch und Philosophie unterrichten. Warum sollte dies in Bezug auf Ethik plötzlich nicht möglich sein?

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Meinungen in Bezug auf den Ethikunterricht auseinandergehen. Es fördert eine Diskussion - besonders wenn man dabei an die Vernunft appelliert - allerdings nicht, Argumente allzu sehr zu verkürzen und bloß scheinbare Gegensätze aufzubauen. (Reinhold Esterbauer, Leserkommentar, derStandard.at, 30.1.2013)