Der NS-Anatom Hermann Stieve beanspruchte Exekutionsopfer für seine Untersuchungen. Die oben abgebildete Liste aus Jena 1943 gibt Auskunft über die Todesursache der aufgeführten Menschen - rot unterstrichen sind Hingerichtete.

Bilder: UNIVERSITY ARCHIVES JENA/CENTER FOR ANATOMY, CHARITÉ/UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN

Ann Arbor / Wien - Liane Berkowitz war eine von ihnen. Die gerade einmal 19-Jährige wurde 1942 von der Gestapo verhaftet, als sie Plakate gegen die Nazi-Propaganda affichierte. Da Berkowitz schwanger war, wurde mit der Hinrichtung bis nach der Geburt ihres Babys zugewartet.

Doch damit war die tragische Geschichte der Widerstandskämpferin noch nicht zu Ende. Berkowitz' Leiche gehörte zu den sterblichen Überresten von 182 vorwiegend weiblichen Exekutionsopfern, die der NS-Anatom Hermann Stieve für seine Untersuchungen beanspruchte. Der Anatom wollte unter anderem untersuchen, ob Schockerlebnisse in kurzer Zeit einen vom Zyklus abweichenden Eisprung auslösen können. Und dafür dürfte er von den Frauen auch verlangt haben, dass sie vor der Exekution einen Monatskalender führten.

Die höchst fragwürdigen Studien des Professors der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin (heute Humboldt-Uni) sind bereits recht gut erforscht. Doch relativ wenig ist bisher über seine Opfer bekannt, an denen er nach ihrer Exekution forschte. Diesen 174 Frauen und acht Männer - die meisten aus politischen Gründen hingerichtet - nahm sich nun die deutsch-amerikanische Anatomin und Medizinhistorikerin Sabine Hildebrandt im Fachblatt "Clinical Anatomy" an.

Stieve habe diese Liste erst 1946 erstellt, berichtet Hildebrandt. Und erst dank dieser Aufzeichnungen sei es möglich geworden, den Opfern wie Liane Berkowitz auf die Spur zu kommen, ihre Lebensgeschichte und ihr schreckliches Ende zu rekonstruieren. Stieve selbst hingegen sprach allenthalben von seinem "Material", das ihm "in der Zeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft überwiesen" worden sei.

Offensichtlich ist, dass Stieve sehr wohl Einfluss auf den Zeitpunkt der Hinrichtungen nahm, um an den weiblichen Leichen möglichst zeitnah seine anatomischen Studien durchführen zu können. Dabei setzte er sich oft genug gegen den letzten Willen der Hingerichteten hinweg: So etwa äußerte die Widerstandskämpferin Libertas Schultze-Boyen als letzten Wunsch, dass ihre "materielle Substanz" an ihre Mutter gehen und in der Natur begraben werden solle.

Wie Hildebrandts Recherchen bestätigten, erhielten sämtliche 31 Anatomie-Institute in Deutschland und den besetzten Gebieten Leichen von Exekutionsopfern. Besonders gierig war man in Wien: Für Eduard Pernkopfs Anatomieatlas wurden die Leichen von 1377 Hingerichteten ans Institut geliefert.

Stieve übrigens war bis zu seinem Tod 1952 unbehelligt Professor in Ostberlin. Im offiziellen Nachruf des SED-Zentralorgans "Neues Deutschland" hieß es: "Groß waren seine Taten. In seinem Werk wird er weiterleben." (tasch, DER STANDARD, 29.1.2013)