Seit zehn Jahren hat Karel Czerny sein Winterquartier auf einer Bank im Stadtpark aufgeschlagen.

Foto: Matthias Cremer

Nach einem Arbeitsunfall ist der heute 49-Jährigen in die Obdachlosigkeit gerutscht. Heute genießt er durchaus auch die Freiheiten dieses Lebens, sagt er.

Foto: Matthias Cremer

Heuer ist bereits der zehnte Winter, den Karel Czerny in Wien verbringt, und momentan ist es einer der härtesten. Wenn sich der 49-Jährige nachts auf seiner Parkbank in zwei Schlafsäcke einhüllt, die Wolldecke über den Kopf zieht und ihn eine Plastikplane vor dem schneidenden Wind schützen soll, herrschen zum Teil zweistellige Minusgrade. Czerny ist einer von knapp zehn Obdachlosen, die im Stadtpark überwintern. 

Am frühen Nachmittag sitzt er meist auf seiner Bank, raucht Zigaretten und starrt stumm auf das weiße Schneepanorama. Er genießt sichtlich die Ruhe, schließlich hat er bereits eine anstrengende Odyssee hinter sich, und noch eine weitere vor sich. Täglich pendelt Czerny jeweils morgens und abends zwischen Suppenküchen, Essensausgaben und Hilfseinrichtungen quer durch die Stadt.

Lieber ein Langschläfer

Doch spätestens bei Anbruch der Dunkelheit kehrt er wieder in den Stadtpark zurück. Dass er trotz der sibirischen Kälte kein Obdachlosenheim aufsucht, erklärt er recht lapidar: "Ich schlafe eben gerne lang. Bei der Caritas heißt es immer: bis halb acht Frühstück und raus."

Czerny möchte eben seine Freiheit beibehalten und selber bestimmen, wie er seinen Tag gestaltet. Außerdem, so erzählt er, seien in der Gruft oder ähnlichen Hilfseinrichtungen viele Besoffene und Diebe unterwegs - und es komme regelmäßig zu Polizeirazzien. Im Stadtpark hingegen ginge es ihm gar nicht so schlecht, zumindest behauptet er das. Die Leute hier würden nur wenig Alkohol trinken und daher gebe es untereinander als auch mit der Polizei so gut wie keinen Ärger.

Zwei Plastiksackerl und ein Foto

Der Stadtparkbewohner kann all sein Hab und Gut in zwei Plasticksackerl packen, seinen größten Schatz führt er jedoch stets in seinem Portemonnaie bei sich: Fotos von seinen zwei Kindern, einer Tochter und einem Sohn, die bei seiner Ex-Frau wohnen. Sie studieren in Ostrava, der drittgrößten Stadt Tschechiens, nur zehn Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Jeden Monat fährt er sie dort besuchen, zuerst über Bratislava nach Břeclav, wo er seine Invalidenrente abholt, und von dort weiter in den östlichsten Winkel der Tschechischen Republik.

Wenn Karel Czerny die Fotoporträts in die Luft hält, zittern seine Hände. Zwei Finger an seiner rechten Hand sind bereits dunkel angelaufen. Sie sind gelähmt und frieren bei der herrschenden Kälte besonders schnell. Vor zehn Jahren, als er noch am Bau arbeitete, zertrümmerte ein Betonstein seine rechte Hand. Ein Arbeitsunfall, der für den gelernten Maurer eine unweigerliche Abwärtsspirale in Richtung Obdachlosigkeit in Gang setzte. 

Zu wenig für die Miete

Die Invalidenrente von umgerechnet 240 Euro reichte nämlich nicht aus, um die Miete seiner Wohnung zu zahlen und dabei noch genug für das Notwendigste zum Leben zu haben. Anfangs unterstützte ihn noch sein Bruder, der als LKW-Fahrer durch Europa fährt, und gab ihm regelmäßig Essen. Aber Czerny wollte seine Hilfe schon bald nicht mehr. "Mein Bruder hat sein Leben und ich meins. Er hat auch seine eigenen Probleme", sagt er heute.

Seitdem er auf der Straße lebt, so erzählt er stolz, falle er niemanden zur Last und könne gar seine Kinder jeden Monat mit 50 Euro unterstützen. Das ist immerhin mehr, als sein eigener Vater für ihn leistete. Dieser hatte in den 1980ern einen Betriebsausflug nach Augsburg genutzt, um sich ins damalige Westdeutschland abzusetzen. Mit einer schlichten Postkarte hatte sich Karel Czernys Vater verabschiedet. Seitdem hat es keinen Kontakt mehr gegeben.

Schach als einziges Erbe

Doch für eine Sache ist der 49-jährige Obdachlose seinem Vater auch heute noch dankbar: Dass dieser - ein ehemaliger Profischachspieler bei Slavia Prag - ihm das Schachspielen beigebracht hat. Fast wöchentlich spielt Karel Czerny Turniere für eine Schachliga und lernte so schon unzählige Bekannte kennen. Er freut sich bereits auf den Sommer, wenn er sich in den Zug setzt und durch Mitteleuropa reist. Vergangenes Jahr schaffte er es gar ans Mittelmeer nach Marseille, wo er in den Parkanlagen der Stadt Schach gespielt hat.

In zwei Jahren wird Czernys 24-jähriger Sohn mit dem Ingenieursstudium fertig. Ob er sich bis dann vorstellen könne, es mit seiner Unterstützung weg von der Straße zu schaffen? "Ich glaube, ich werde mein ganzes Leben draußen bleiben", sagt Czerny etwas resigniert. Ob er keine andere Wahl habe oder aus verletztem Stolz nicht anders wolle, vermag er nicht zu sagen. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. (Fabian Kretschmer, derStandard.at, 27.1.2013)