Gerlind Weber: "Niederösterreichs Bevölkerung wird insgesamt wachsen, aber es gibt auch ganz stark schrumpfende Gemeinden, und für die muss man Lösungen finden."

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STANDARD: Wie wird sich der Wiener Speckgürtel entwickeln?

Gerlind Weber: Er wird wachsen - sowohl in sich als auch in die Breite. Alle Altersgruppen werden größer. Der niederösterreichische Zentralraum und das Wiener Umland werden ineinander fließen.

STANDARD: Was sind die Faktoren dafür?

Weber: Natürlich die Nähe zu Wien mit dem attraktiven Arbeitsplatzangebot, aber auch die Suche nach geeignetem Wohnbauland, deswegen wächst der Speckgürtel eben, weil es in den Randgebieten noch günstiger ist, zu bauen. Oft sind ja auch gar nicht mehr die Flächenreserven da, zum Beispiel in Purkersdorf, da gibt es faktisch keine Wiesen mehr. Der Anteil der jungen Leute wird wachsen, das ist etwas ganz Besonderes. Eine Zeit lang sprach man vom alten Osten und vom jungen Westen, aber jetzt wendet sich das Blatt. Durch die Migranten kommt ja immer Nachschub. Die gehen zuerst meist in die Kernstadt, könnten künftig aber auch vermehrt ins Umland drängen. Aber nicht alle streben das an, weil ja viele ihr Geld auch im Heimatland investieren und in der Pension wieder zurückgehen wollen.

STANDARD: Was weiß man über die soziale Zusammensetzung der Speckgürtelbewohner?

Weber: In der Regel sind sie gut situiert und können sich den Lebenstraum von Herrn und Frau Österreicher, ein Einfamilienhaus im Grünen mit Garten, leisten. Eine klassische Speckgürtler-Biografie sieht so aus: Jemand ist von einem Bundesland zur Ausbildung nach Wien gezogen, ist dann in der Haushaltsgründungsphase in der Kernstadt geblieben, weil in dieser Zeit die Arbeitsplatzsituation wichtig ist und es noch nicht darum geht, sich etwa eine Eigentumswohnung zu kaufen. In der Familiengründungsphase entsteht dann oft der Wunsch, wieder hinauszugehen ins Grüne. Viele wollen ihren Kindern die Art des Großwerdens zukommen lassen, die sie selbst erlebt haben. Es gibt auch Altersmigration: Wenn man Betreuung braucht oder das Haus zu groß ist, weil die Kinder weg sind, zieht man wieder zurück in die Kernstadt. Das darf aber zahlenmäßig nicht überschätzt werden.

STANDARD: Was bedeutet es aus raumplanerischer Sicht, wenn sich eine Region in einem Bundesland so massiv verändert?

Weber: Es ist ein riesen Steuerungsauftrag, die besten landwirtschaftlichen Böden müssen ebenso gesichert werden wie der Erholungsraum. Jeder, der dort hinauszieht, möchte ja am Land leben, aber die Dörfer im Umland von Wien verstädtern teilweise.

STANDARD: Das heißt, man muss der Versuchung widerstehen, alles in teuren Baugrund umzuwandeln.
Weber: Sicher. Da ist das Land als Aufsichtsbehörde gefordert, die die Siedlungsgrenzen definieren sollte, um großräumigere Grünflächen bewahren zu können, als Naturräume, aber auch als Produktionsräume für die Landwirtschaft, zur Erzeugung von Energie, und so weiter. Das ist oft aber sehr schwierig, weil beinharte ökonomische Interessen hinter der Umwidmung in Bauland stehen.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass der Raum Wien und Umgebung politisch überhaupt als Einheit gedacht wird? Oder gibt es raumplanerische Sünden, die man auf die Stadtgrenze zurückführen kann?

Weber: Es gibt zwei grundlegende Sünden. Einerseits, dass man um die Wohnbevölkerung konkurriert. Alle sind auf Wachstum aus, weil ja die Ertragsanteile des Bundes nach Wohnbevölkerung ausbezahlt werden. Dafür gibt es wundersame Instrumente wie das Parkpickerl. Die zweite Sünde ist der Wettbewerb um die Arbeitsplätze. Am augenfälligsten sieht man das am Handel, wo man vor die Tore Wiens große Einkaufszentren setzt, um die Kundschaft auf dem Weg nach Wien abzuschöpfen.

STANDARD: Welche Folgen kann das haben?

Weber: Dass man sich zum Beispiel Überkapazitäten schafft. Wir haben etwa doppelt so viel Verkaufsflächen pro Kopf wie die Deutschen. An vielen Standorten werden Unternehmen nicht überleben können, wobei die Großen als Sieger hervorgehen werden. Es ist auch ein Fehler, Bauland einfach einmal zur Verfügung zu stellen, ohne zu wissen, ob es in Anspruch genommen wird. Man stopft enorm viel Geld in die Infrastruktur-Erschließung. In diesem Konkurrenzkampf wird viel Geld versenkt.

STANDARD: Sollten Ertragsanteile, die die Gemeinden vom Bund bekommen, anders verteilen würde?

Weber: Ja, sicher. Der abgestufte Bevölkerungsschlüssel, laut dem städtische Gemeinden pro Einwohner mehr bekommen als ländliche, ist sicher nicht mehr gerecht. Warum ist ein Wiener doppelt so viel wert wie jemand, der in einem kleinen Dorf in Niederösterreich lebt? Dort kommen ja die Kosten der Weite zusammen, die Erschließungsleistungen, die auch die kleinen Dörfer haben, müssen gewährleistet sein, genau so wie etwa die medizinische Versorgung. Das ist ja sogar viel teurer als im städtischen Raum, bis zum Sechsfachen pro Wohnung wird oft für technische Infrastruktur wie Straßen und Leitungen ausgegeben. Überhaupt nicht berücksichtigt wird auch die Multilokalität, also die Tatsache, dass heute viele Menschen mehrere Wohnsitze haben. Es müsste auch für Zweitwohnsitzer Ertragsanteile geben.

STANDARD: Das große Thema im Speckgürtel ist der Verkehr ...

Weber: Da setzt man viel zu stark auf Autos. Die Distanzen werden durch die Ausdehnung des Speckgürtels weiter, das wird durch die Aufstockung der Pendlerpauschale ja sogar noch gefördert. Die Suburbanisierung als einen Prozess zu sehen, der sich quasi naturgesetzlich fortsetzt, das ist eine resignative Grundhaltung. Man müsste viel daran setzen, dass dieser Prozess zumindest nicht mehr so hitzig vorangetrieben wird, sondern dass er abnimmt und die Verspeckgürtelung irgendwann zum Stillstand kommt.

STANDARD: Warum?

Weber: Weil durch überbordende suburbane Entwicklung die Attraktivität des ländlichen Raumes zerstört wird. Naturräume werden beansprucht, der Charakter der Dörfer verändert sich stark, das Verkehrsaufkommen schwillt an, es entstehen neue soziale Fragen, weil sich viele Zugewanderte hinter ihren Gartenzäunen verschanzen und ihr Gesellschaftsleben weiterhin in der Stadt haben. Sie wohnen zwar am Land, wissen aber mit dem Landleben nichts anzufangen.

STANDARD: Was bedeutet es für Niederösterreich insgesamt, wenn der Fokus des Wachstums nur in einer Region liegt?

Weber: Niederösterreich hat ein Verteilungsproblem. Seine Bevölkerung wird insgesamt wachsen, aber es gibt auch ganz stark schrumpfende Gemeinden, und für die muss man Lösungen finden. Im nördlichen Waldviertel gibt es Gemeinden, die haben in den letzten Jahrzehnten die Hälfte ihrer Bevölkerung und zwei Drittel ihrer Arbeitsplätze verloren. Laut Prognosen werden sie allein durch die Demografie bis 2030 ein Drittel der Bevölkerung verlieren, da ist die Abwanderung noch gar nicht mit eingerechnet. Und die Planer verhalten sich sehr ratlos gegenüber diesen Schrumpfungsprozessen und kommen nur mit Wachstumsrezepten, die ja oft reines Gesundbeten sind, weil die Leute in den Gemeinden gar nicht mehr existieren, die das Wachstum zustande bringen können. Der Wettbewerb um Wohnbevölkerung wird jedenfalls stark zunehmen. Es wird wirklich ein Headhunting um die Einwohner geben. (Andrea Heigl, DER STANDARD, 26.1.2013)