"Digital ist besser", hieß es früher bei Tocotronic, heute nimmt die deutsche Band analog auf. Das neue Album "Wie wir leben wollen" erscheint am Freitag.

Foto: Universal / Michael Petersohn

Wien - Das Thema lautet: Wie pflegt man die einer Kunst immer noch unterstellte Renitenz, wenn sie und ihre Schöpfer längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommen sind? Wenn man Nutznießer eines Systems geworden ist, das man dennoch unsympathisch findet? Tocotronic wissen darauf zwar keine Antwort, aber sie denken darüber nach und schreiben Lieder übers Nachdenken. 17 Stück sind es geworden, die dem am Freitag erscheinenden Album Wie wir leben wollen eine Länge von über 70 Minuten bescheren. Es dauert also, bis man am Ende auch nicht schlauer ist.

Tocotronic tragen traditionell schwer. Aus Hamburg kommend, gilt die Band als intellektuell, seit sie Mitte der 1990er als rockende Altkleidersammlung mit deutschen Texten über sich und die Welt aufgetaucht war. Damals wollte das Trio gerne "Teil einer Jugendbewegung" sein. Heute sind sie Mitte 40, zu viert, blicken auf Alben in den Top Ten und an der Spitze der deutschen Charts zurück, spielen demnächst im Burgtheater (6. Februar) und versuchen, nicht Herbert Grönemeyer oder die Toten Hosen zu werden. Das geht zwar leicht, aber das Kokettieren mit dem Midlife und seinen lauernden Krisen findet sich dort ebenso wie hier.

Aber im Gegensatz zu den Genannten missionieren Tocotronic nicht. Nie. Das muss man noch ihren bescheidensten Liedern zugutehalten, dass Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank sowie der 2000 zur Band gestoßene Rick McPhail nie jemandem vorschreiben wollen, wie was zu sein hat. Ein " Wie man leben soll" würde ihnen nicht passieren.

Schließlich ist man von Punkrock und linken Ideen geprägt und absolvierte die Hamburger Schule. So wurden Bands wie Tocotronic, Blumfeld oder Die Sterne genannt, die mit deutschen Texten das Private politisch machten, wie man damals begeistert sagte. Ja, so schnell wurde man damals Intellektueller.

Es ist eine Zuschreibung, die Tocotronic ablehnen. Am Vordenkerischen des Intellektualismus stoßen sie sich. Und man täte sich mitunter auch schwer, manchen ihrer Lieder besondere Geistesgröße nachsagen zu wollen.

Gerade Wie wir leben wollen böte jede Menge Gelegenheiten, sich über Tocotronic lustig zu machen. Denn Lowtzows selbstauferlegter Reimzwang gebiert zwangsweise Texte, deren Gehalt der Phonetik stärker denn der Sinnhaftigkeit verpflichtet sind: "... die Altäre sollen rauchen, ich werde neue Kleider brauchen, die Kometen sterben stumm, auf dem Pfad der Dämmerung, ich will Steine hauen, im Vertrauen, ich möchte mich selbst verdauen ..."

Blöde Sache, aber mutig und letztlich nicht schlimmer als viele fremdsprachige Texte, die man nur leichter ausblenden kann als solche in der eigenen Sprache.

Die Band bettet Lowtzows Wortgirlanden auf eine einnehmende, aber keine besonderen Überraschungen bietende Rockmusik. Dem Midlife entsprechend ist sie meist im Midtempo angesiedelt. Rockistische Momente sowie Zwischensprints tauchen aber ebenso auf wie Countryeskes im Lied Chloroform. Ins zart Groteske schlittert Lowtzow, wenn er sich stellenweise eines fast schon schlageresken Idioms bedient und in erbschleicherischem Tonfall seine Reime appliziert.

Kakteen und Orchideen

Ein Lied wie Vulgäre Verse erinnert an die Berliner Band Element of Crime und ihre säuerliche Gemütlichkeit, obgleich deren Sven Regener ungleich deutlicher auf den Punkt textet, lieber Kakteen besingt, als sich um Orchideen zu winden.

Tocotronic haben mit Wie wir leben wollen ein weiters "Ja, aber..." -Album gemacht. Die Band hält sich den Zweifel weiter als Notausgang offen. Das mag ein bisschen feig erscheinen, ist dabei aber nur ehrlich. Typen, die einem sagen, wie es geht, gibt's ohnehin mehr als genug. Lieber echte Zweifler als falsche Experten. Der Rest ist nur Musik. (Karl Fluch, DER STANDARD, 23.1.2013)