"America turns European" titelte kürzlich der britische Economist. Wer dieses Politikmagazin regelmäßig liest, wird freilich nicht auf die Idee kommen, die Schlagzeile sei positiv gemeint. Die einseitige Story bestätigt den Verdacht: Den Republikanern und Demokraten wird vorgeworfen, ähnlich den Vorgängen in der EU wirkliche Problemlösungen zu verschleppen.

Die Eurokrise dauere an, weil die strukturellen Schwächen der Währung nicht behoben seien, schreibt der Economist. So wie die Europäer gesteuert von nationalen Interessen seien, hätten in den US-Parteien die jeweiligen Extremisten (Linke und Rechte) das Sagen. Und: Wie in Europa seien auch in den USA die Spitzenpolitiker nicht ehrlich zu ihren Wählern. Auch Barack Obama wird dies vorgeworfen.

Indessen ist Obama, was die politischen Grundlinien betrifft, noch stärker "europäisch" als sein Vorvorgänger Bill Clinton. In den USA gilt diese Politik als "liberal". Von ihren Gegnern wird sie zugespitzt auf "sozialistisch". Womit "extremistisch" gemeint ist. Einige Beispiele:

1.) Gesundheitsreform. Hillary Clinton war die Beauftragte ihres Mannes, in den USA Krankenversicherungen nach europäischem Muster durchzusetzen. Sie scheiterte kläglich. Obama scheiterte beinah am Kongress, aber er hat einige wesentliche Teile der Reform durchgebracht, nicht zuletzt durch einen Spruch des Obersten Gerichtshofs - Versicherungen für einen Großteil der Schwachen und Alten.

2.) Waffengesetze. Bill Clinton brachte 1998 ein Gesetz durch Senat und Repräsentantenhaus, das schwere Waffen verbot. 2004 hätte es verlängert werden müssen, doch Clintons Nachfolger, der Texaner Bush, ließ es unter dem Beifall der Waffenlobby auslaufen. Obama will jetzt erheblich schärfere Regelungen am Kongress vorbei mithilfe eines präsidentiellen Erlasses in Kraft setzen.

3.) Die Außenpolitik. Obama hat konventionelle Kriege vermieden, sie aber durch den sogenannten "Drohnenkrieg" gegen mutmaßliche Terroristen ersetzt. Das ist umstritten, weil es zivile Opfer gibt. Insgesamt aber folgt dieser Präsident der Linie der EU-Staaten und versucht (Beispiel Libyen) die USA aus Landgefechten herauszuhalten.

4.) Steuerpolitik. Der wiedergewählte Präsident hat die Steuern für Reiche von 35 auf 39,6 Prozent erhöht. Diese Quote ist immer noch zehn Prozent niedriger als in Österreich und anderen EU-Ländern. Damit soll die Schere zwischen Reich und Arm wieder ein wenig zugehen. Bis Mitte der 1970er-Jahre gab es einen ungeschriebenen Sozialkontrakt, der durch mächtige Regierungsagenturen gehalten wurde. Die reichsten Manager verdienten damals 40-mal so viel wie einfache Arbeiter. In den Reagan-Jahren wurde Lobbying gestärkt, das Arbeitsrecht wurde geschwächt. Heute verdienen Industriechefs 400-mal so viel wie Arbeiter.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat eine weitere Öffnung der Einkommensschere in Europa gebremst. Obama andererseits will sein Land wieder näher zum kontinentaleuropäischen Modell heranführen. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 21.1.2013)