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Von Geburt an blinde Menschen können sich deutlich besser an Geräuschen orientieren, leichter unterschiedliche Tonhöhen erkennen und sicherer einschätzen, wie weit eine Geräuschquelle entfernt ist, als Sehende.

Foto: ap/dapd/Silvia Izquierdo

Die Hypothese, dass sich blinde Menschen deutlich besser an Geräuschen orientieren können als Sehende, steht selbst in medizinischen Fachkreisen außer Zweifel. An diesem Standpunkt gibt es nichts zu rütteln, schließlich stellt er mittlerweile auch ein Stück kollektives Alltagswissen dar. Können dann im Umkehrschluss taube Menschen auch besser sehen als Hörende? Oder allgemeiner gefragt: Sind Sinne kompensierbar?

Es gibt zahlreiche empirische Belege für die Kompensationshypothese, die davon ausgeht, dass ein fehlender Sinn quasi "substituierbar" ist. Der kanadische Mediziner Frédéric Gougoux und sein Forscherteam von der Universität Montreal stellten beispielsweise fest, dass sich blinde Menschen nicht nur besser an Geräuschen orientieren, sondern auch Tonhöhen differenzierter wahrnehmen können. 

"Es handelt sich dabei keineswegs um eine Legende, mit der man Blinden mitfühlend wünscht, dass sie zumindest besser hören, sondern dieses Phänomen ist wissenschaftlich nachgewiesen", sagt Ursula Schmidt-Erfurth, Leiterin der Augenklinik an der Universität Wien. Allerdings muss dieser Zusammenhang mit einem großen "aber" versehen werden, denn der Zeitpunkt der Erblindung gilt als ausschlaggebenden dafür, ob sich im Gehirn die notwendigen Verschaltungen entwickeln. 

Aktivitäten in der Sehrinde 

Demnach können Personen, die bereits seit ihrer Geburt oder in jungen Jahren erblindet sind, auch sehr gut einschätzen, wie weit eine Lärmquelle entfernt ist. "Je früher jemand sein Augenlicht verloren hat, desto besser sind seine Möglichkeiten die Plastizität des Gehirns zu nutzen, und umso mehr können Hörreize verarbeitet werden", erläutert Schmidt-Erfuth. 

Ein Effekt, den auch Frédéric Gougoux mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) nachweisen konnte. Seine Untersuchungen zeigten, dass jene Probanden, die von Geburt an blind waren, eine Geräuschquelle auch am genauesten lokalisieren konnten. Dabei waren überraschenderweise verstärkt Hirnaktivitäten im visuellen Kortex - einem üblicherweise für das Sehen zuständigen Bereich im hinteren Teil des Gehirns - zu beobachten. Das heißt, die Sehrinde lag bei diesen Probanden nicht brach, sondern wurde zur Verlagerung der Reizverarbeitung genutzt. "Das ist auch der Grund dafür, dass früh erblindete Personen mehr Informationen aus diesen 'Hördaten' gewinnen können als Sehende", ergänzt Schmidt-Erfurth.

Vom Alter abhängig

Allerdings nimmt die Plastizität des Gehirns mit zunehmendem Alter ab, wobei die Pubertät eine Art Zäsur darstellt. "Das erklärt, warum Menschen in frühen Jahren beispielsweise leichter eine Fremdsprache erlernen. Medizinisch gesehen entwickelt das Gehirn vor dem 14. Lebensjahr für jede erlernte Sprache ein eigenes Zentrum - es gibt dann sozusagen ein eigenes Sprachzentrum für Deutsch, ein eigenes für Englisch oder Französisch - je nachdem, um welche Sprache es sich eben handelt", so die Leiterin der Wiener Augenklinik. 

Danach wird es bedeutend schwieriger, auch was die Kreuzmodalität betrifft - "also dass ein Mensch, bei dem das Sehen nicht zur Verfügung steht, etwa auf das Hören und Tasten übergehen kann", wie Schmidt Erfurth betont. Blinde Menschen können nämlich nicht nur den Hör-, sondern auch den Tastsinn ausgeprägter nutzen, indem sie freie Gehirnkapazitäten dazu verwenden, taktile Reize stärker auszuwerten beziehungsweise mehr Informationen daraus zu gewinnen. 

Visuelle Reize dominieren

Umgekehrt setzen Gehörlose ihren Sehsinn etwas effektiver ein. "Taube Personen orientieren sich mit ihrem Sehvermögen deshalb besser, weil sie trainiert haben, über die Intensivierung von Kopf- und Augenbewegung mehr Kontrolle über das gesamte Umfeld zu haben", sagt Ursula Schmidt-Erfurth. Allerdings ist hier der entsprechende Kompensationseffekt deutlich schwächer ausgeprägt, als das bei Blinden der Fall ist. 

Der Expertin zufolge liegt das darin begründet, dass etwa 90 Prozent der Reizverarbeitung und der Sinneswahrnehmung über das Sehen erfolgen: "Daran ist ersichtlich, welch große Funktion das Visuelle für die gesamte Wahrnehmung und Lebensfähigkeit eines Menschen hat." Die restlichen zehn Prozent teilen sich Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 16.1.2013)