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Sie sind groß und haben messerscharfe Zähne: Warum Bullenhaie in Flüsse vordringen und wie gefährlich sie wirklich sind, versuchen Forscher herauszufinden.

Foto: REUTERS/Francisco Bonilla

Welch ein prächtiger Tag. Der blaue Himmel und die Hochhäuser spiegeln sich im gemächlich dahinströmenden Fluss. Auf dem Wasser kreuzen Segelboote und Ruderkähne, aber niemand bemerkt, was sich unter der Oberfläche bewegt. Ein knapp drei Meter langer Hai schwimmt an Stegen und Kaimauern vorbei. Kurs stromaufwärts.

Was wie das Drehbuch für einen Horrorfilm klingt, ist wissenschaftlich erforschte Realität. Es gibt tatsächlich eine Haispezies, die gezielt in Süßwasser einwandert und dort längere Zeit verbringt, den Bullenhai, Carcharinus leucas. Die Art ist in tropischen und subtropischen Meeresgebieten weltweit verbreitet. Sie lebt meist in Küstennähe und eben auch in Flüssen sowie manchen damit verbundenen Seen. C. leucas hat die unter Knorpelfischen äußerst seltene Fähigkeit, seinen inneren Wasserhaushalt, die Osmoregulation, an unterschiedliche Salzgehalte anzupassen. Dadurch erschließen sich der Spezies ganz neue Lebensräume und ökologische Nischen. Und das hat sie ausgenutzt.

Jungtiere dringen weiter in Flüsse vor

Die schwimmenden Räuber scheinen sich in manchen Flusssystemen besonders gerne aufzuhalten. Es gibt zum Beispiel diverse Meldungen aus dem Ganges und dem Sambesi. Die Karen, ein in Nordthailand beheimatetes Volk, berichten über einen heiligen Fisch mit gezackten Flossen, der angeblich hin und wieder im Mekong auftaucht, hunderte Kilometer vom Meer entfernt. In der Vergangenheit gelangten vor allem die Haie des mittelamerikanischen Nicaraguasees zu einem zweifelhaften Ruf. Die Tiere sollen regelmäßig Menschen angegriffen haben. Inzwischen jedoch dürfte diese Population fast erloschen sein - durch Überfischung.

Die Hintergründe für das eigenartige Wanderverhalten der Bullenhaie wurden im vergangenen Jahrzehnt von Forschern untersucht. Michelle Heupel, Biologin an der James Cook University in Townsville (Australien) ist eine von ihnen. Heupel und ihre Kollegen studierten vor allem das Vorkommen von C. leucas im Caloosahatchee River in Florida. Das Team stellte fest, dass dort hauptsächlich der Hainachwuchs im Fluss lebt - je weiter stromaufwärts, desto jünger die Tiere.

Hohe Überlebensrate

Die kleinen Haie besiedeln den Caloosahatchee River praktisch nach Alter sortiert. Womöglich sind sie so vor Nahrungskonkurrenz durch ältere Artgenossen gefeit oder vor Kannibalismus. Anhand von Markierungsversuchen konnten die Wissenschafter bei den Junghaien eine Überlebensrate von 77 Prozent in den ersten anderthalb Lebensjahren ermitteln. Im Vergleich zu anderen Haispezies ist das besonders hoch.

Auch in Nordaustralien dienen Flüsse offenbar als Kinderstuben für Bullenhaie. C. leucas ist, so wie viele Haiarten, lebendgebärend, und Fachleute vermuten sogar, dass die Muttertiere ihre Jungen im Süßwasser zur Welt bringen. Bewiesen ist das allerdings noch nicht. "Es ist überaus schwierig, herauszufinden, wo genau die Haie werfen", sagt Michelle Heupel im Gespräch mit dem Standard. Der Hintergrund: Die Weibchen verlieren vor der Geburt jeglichen Appetit. Sie lassen sich dann nicht mehr mit Ködern fangen, erklärt Heupel. Abgesehen davon ist das Wasser in den Haiflüssen normalerweise sehr trüb. Beobachtung werden dadurch praktisch unmöglich.

Eine neue australische Studie beruht indes auf einem ganz anderen Ansatz. Die Forscher nahmen Gewebeproben von Bullenhaien aus insgesamt 13 nordaustralischen Flusssystemen und analysierten diese genetisch. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Mitochondriale DNA von Tieren aus ein und demselben Fluss zeigt in ihrer Sequenz große Ähnlichkeit, im Gegensatz zum entsprechenden Erbgut von Exemplaren aus benachbarten Gewässern. Die Haie sind offenbar über die mütterliche Linie miteinander verwandt, denn mitochondriale DNA wird nur weiblich vererbt. Daraus folgt, dass Bullenhaimütter wahrscheinlich von Generation zu Generation dieselben Flüsse aufsuchen. Sie kehren wie Lachse in ihre Jugendheimat zurück.

Strategie gegen Konkurrenz

Es sind allerdings nicht ausschließlich Weibchen, die in Flusssysteme vordringen. In manchen Binnengewässern sollen auch ausgewachsene Männchen aufkreuzen. Bullenhaie verhalten sich eben unterschiedlich in unterschiedlichen Regionen, betont Michelle Heupel. "Es ist möglicherweise eine Strategie, die dazu dient, Konkurrenzdruck generell zu entgehen." Im Küstenbereich gibt es schließlich diverse andere Haispezies, die auf dieselben Nahrungsressourcen zugreifen, doch im Süßwasser steht C. leucas fast überall dort, wo er vorkommt, unumstritten an der Spitze der Nahrungskette.

Wie gefährlich die Flussräuber für Menschen sind, ist umstritten. Die Knorpelfische sind groß und haben messerscharfe Zähne, eine potenzielle Bedrohung allemal. Nicht nur aus Nicaragua, auch aus dem Ganges-Gebiet gibt es gruselige Geschichten von angriffslustigen Bullenhaien. Die wissenschaftliche Beweislage ist jedoch dürftig.

Eindeutige Belege für Bullenhaiattacken auf Personen liegen fast nur aus Küstenregionen vor. Und es gibt im Ganges und seinem Nebenfluss Hugli noch eine weitere Haiart: den geheimnisvollen Glyphis gangeticus, über dessen Lebensweise praktisch nichts bekannt ist. Diese Tiere haben winzige Augen und ein ebenfalls beeindruckendes Gebiss. Sie sind vielleicht sogar eine reine Süßwasserspezies. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 16.1.2013)