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In Deutschland marschierten mehrere hundert Flüchtlinge quer durchs Land nach Berlin, wo sie vor dem Brandenburger Tor ihr Lager aufschlugen.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Der Protest der Flüchtlinge, die in der Wiener Votivkirche nach wie vor hungerstreiken, sei inhaltlich in manchem nachvollziehbar, ja vielleicht auch verständlich. Aber die Vehemenz sowie die Rücksichtslosigkeit auf das eigene, körperliche Wohl, mit der die rund 40 Männer aus Pakistan, Afghanistan und Marokko den fortgesetzten Essensverzicht betreiben, lasse darauf schließen, dass die Flüchtlinge unter dem Einfluss linksradikaler EinpeitscherInnen aus Österreich oder anderen EU-Staaten stünden. 

Das ist im Großen und Ganzen die Ansicht, die in der liberalen, österreichischen Öffentlichkeit zu dem Thema inzwischen herrscht - während FPÖ-AnhängerInnen und andere Rechte mittels Fehlinformationen und Anzeigen tüchtig an der Kriminalisierung dieser Protestbewegung arbeiten.

Letztere, FPÖ und Rechte, tun damit, was von ihnen leider zu erwarten war. Erstere jedoch, die Liberalen, also für Infragestellung der derzeitigen Behandlung von Flüchtlingen und Österreich und der EU Zugänglichen, machen es sich mit der Einordnung der Aktionen als überwiegend fremdbestimmt zu einfach. Auch wenn sich manche UnterstützerInnen seit der Übersiedlung einer Gruppe Flüchtlinge aus dem inzwischen geräumten Refugee-Camp im Sigmund-Freud-Park in die Kirche zu Gerüchteverbreitung und Verunglimpfung der Caritas verstiegen haben: die berechtigte Kritik an solchen Einstellungen und Verhaltensweisen trifft den Kern der Sache nicht.

Internationale Proteste

Vielmehr hat in Gestalt des radikalen Protests eine Bewegung Österreich erreicht, die in den vergangenen ein, zwei Jahren immer wieder aufgeflammt ist - vor allem in Europa, aber etwa auch in Australien: An Orten und in Situationen, wo Flüchtlinge auf eine Art behandelt werden, dass es einer Entstellung des epochalen Schutzgedankens der Genfer Flüchtlingskonvention gleichkommt.

Denn aufgrund der Konvention konnten Verfolgte seit den 1950er-Jahren einigermaßen darauf vertrauen, dass man die Motive ihrer Flucht im Ankunftsland ernstnehmen und human mit ihnen umgehen werde - so wie es zum Beispiel mit den politischen Flüchtlingen aus den ehemaligen kommunistischen Diktaturen geschah. Seit den 1990er-Jahren wurden in Europa (und Australien) jedoch zunehmend Abschottungsmaßnahmen gegen Flüchtlinge und MigrantInnen eingeführt. 

Heute werden Flüchtlinge vielerorts entmündigt, interniert oder sogar eingesperrt - und das Ausmaß dieser Einschränkungen hat in den vergangenen Jahren eher zugenommen. Dagegen wehren sich Betroffene in steigendem Maß, im Namen eines Rechts auf Bewegungsfreiheit, das den vorherrschenden Kontroll- und Abwehrabsichten krass zuwiderläuft.

Hungerstreik auf Nauru

Etwa, um mit einem grimmigen Beispiel in der Ferne zu beginnen, auf der Insel Nauru, wo Bootsflüchtlinge, die auf dem Weg nach Australien sind, unter miesen, von Amnesty und anderen Menschenrechtsgruppen vielfach kritisierten Bedingungen interniert werden. Auf Nauru findet seit Herbst ein Flüchtlings-Hungerstreik statt. Mitte Dezember, nach 50 Tagen, wurde ein Hungernder mit Nierenversagen ins Spital aufs Festland gebracht. Doch kaum war die akute Lebensgefahr gebannt, musste er auf Betreiben des zuständigen Ministers wieder zurück. 

Australische UnterstützerInnen - auch dort gibt es sie! - erinnerte diese unversöhnliche Behandlung nicht zufällig an das „Katz- und Mausspiel der britischen Regierung mit den feministischen Suffragetten des endenden 19.Jahrhunderts". Auch damals wurden hungerstreikende Frauen, trotz weiterbestehender Gesundheitsgefahr inhaftiert. Ihre Forderungen, radikale Gleichstellung, waren damals ebenso unerhört wie jene der Flüchtlinge offenbar heute. 

Doch zurück in die EU, die das Asylrecht im Vergleich zu australischen Zuständen zwar höher hält, wo aber dennoch unerwünschte AusländerInnen vielerorts monatelang eingesperrt werden: In Polen haben vor wenigen Tagen 63 Flüchtlinge und andere AusländerInnen in den Abschiebezentren Białystok, Biała Podlaska, Przemyśl und Lesznowola mit einem Hungerstreik gestartet. Ihre Forderungen u.a.: Recht auf Information in einer für sie verständlichen Sprache, auf Kontakt mit der Außenwelt, auf medizinische Behandlung, auf Bildung für inhaftierte Kinder und Minderjährige, die Einhaltung von Kinderrechten. 

Suizid in Würzburg als Auslöser

In Deutschland wiederum haben die aktuellen radikalen Flüchtlingsproteste im vergangenen März in Würzburg ihren Ausgang genommen. Anlass war der Suizid eines iranischen Asylwerbers in einer Unterbringungseinrichtung. Er war psychisch an seiner Fluchtgeschichte, aber auch an der Entmündigung und erzwungenen Untätigkeit als Asylbewerber zerbrochen. In der Folge marschierten mehrere hundert Flüchtlinge quer durch Deutschland nach Berlin, wo sie - siehe das Foto zu diesem Blogeintrag - vor dem Brandenburger Tor ihr Lager aufschlugen. Sie besetzten in Kreuzberg eine Schule, dort dürfen sie bis März 2013 vorerst bleiben. 

Und in Österreich? Auch hier standen Entmündigungserfahrungen am Anfang der Flüchtlingsproteste. Der Protest, der sich jetzt in der Votivkirche äußert, kam ursprünglich aus dem Lager - und traf auf Unterstützung von außen. Auslösend dürften dabei unter anderem die für die meisten Betroffenen unangekündigt stattfindenden Verlegungen in Bundesländer nach monatelangem Aufenthalt im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen gewesen sein. Und dass sich vor allem pakistanische Flüchtlinge auf die Proteste einließen, ist angesichts von deren nur einprozentiger Asylanerkennungsquote nicht überraschend - wo doch mancher der Hungerstreikenden in der Votivkirche von krasser Verfolgung im Heimatstaat erzählt. 

Kurz: Auch der Protest in Österreich hat seine Ursache in der Verzweiflung und Ausweglosigkeit von Flüchtlingen, die Rolle der UnterstützerInnen ist dabei sekundär. Und es ist in den kommenden Jahren wohl häufiger mit derlei radikalen Flüchtlingsprotesten zu rechnen - weltweit, in Europa und auch in Österreich. (Irene Brickner, derStandard.at, 12.1.2013)