Foto: Georges Desrues
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Im Winter, wenn es draußen kalt wird, findet der Piemontese sich mit seinesgleichen zusammen, um rohes Gemüse in eine heiße Sauce aus Sardellen, Knoblauch, Olivenöl zu tunken.

Foto: Georges Desrues

Mit Gemüse und Fisch hat die piemontesische Küche an sich wenig am Hut; in der Region am Fuße der Westalpen bevorzugt man Rindfleisch - und das am liebsten roh und gehackt als Carne cruda, roh und verwurstet als Salsiccia di Bra, gekocht im Bollito misto oder als Brasato al Barolo geschmort. Selbst die sonst in Italien üblichen Gemüsesaucen zur Pasta sucht man hier vergeblich. Lokale Nudelsorten wie Tajarin oder Agnolotti werden mit bis zu 30 Eiern je Kilo Mehl gemacht und zumeist mit Ragù, Bratensaft oder zumindest ordentlich viel Butter serviert.

Und dennoch ist die wohl piemontesischste aller Speisen eine gänzlich fleischlose, dafür aber mit konserviertem Fisch und haufenweise Gemüse: Bagna càuda bedeutet auf Piemontesisch heiße Sauce, bezeichnet in Wahrheit aber ein Hauptgericht, bei dem man Gemüse in einen heißen Dip aus Olivenöl, Knoblauch und eingesalzenen Sardellen tunkt. Ob auch Butter in die Sauce soll oder statt Oliven- eher Walnussöl, wie das manche Traditionalisten fordern, ist ein ebenso beliebtes Streitthema wie jenes, wie viel Knoblauch oder welche Gemüse dazugehören - wie das eben so ist mit Gerichten, die bei der Nonna oder Mamma am besten schmecken.

Bagna Càuda

Einigkeit indessen herrscht darüber, dass die Bagna Càuda etwas für die kalte Jahreszeit ist - und winterlichen Gemüsesorten der Vorzug gehört. Diese können roh oder gekocht sein und umfassen Topinambur, Lauch, Kohl, Rote und Weiße Rüben, Zwiebel, eingelegte Paprika und die unerlässlichen und in der österreichischen Küche oft vernachlässigten Karden - ein mit der Artischocke verwandtes Distelgemüse. Fallweise gibt's auch Fenchel, manchmal Stangensellerie, seltener Radieschen oder Karfiol.

"Bei der Zubereitung der Sauce geht es darum, die Sardellen und den Knoblauch sanft im Öl zu kochen, bis sie weich werden und schmelzen", sagt Alessia Battaglino, Köchin und Wirtin eines traditionsbewussten Gasthauses in der Stadt Bra, südlich von Turin. Damit die Bagna Càuda so heiß bleibt, wie ihr Name verspricht, wird sie über einem Teelicht in einem Keramikgefäß serviert, das sich Fojòt nennt und das so untrennbar zu piemontesischen Kücheneinrichtungen gehört wie zu österreichischen der Schnitzelpracker. "In früheren Zeiten stand eine einzige große Schüssel - der Dianèt - in der Mitte des Tisches, heute benutzt man auch zu Hause eher die individuellen Fojòts", sagt Battaglino.

Ein herrlich geselliges Essen bleibt die Bagna Càuda dennoch: Man sitzt vor seiner intensiv duftenden, blubbernden Sauce, reicht die Platten mit den Gemüsen herum, isst mit den Händen. Zum Abschluss des Mahls schlägt man noch ein rohes Ei in den Fojòt, um die Sauce einzudicken und mit knusprigem Weißbrot aufzutunken. Und nun ist der Moment gekommen, in dem sich der begeisterte nichtpiemontesische Novize die naheliegende Frage verkneifen sollte, ob man so ein wunderbares Gericht nicht zu jeder Jahreszeit und mit anderen saisonalen Gemüsen essen könnte? Antwort erhält er darauf nämlich keine - lediglich befremdetes Stirnrunzeln und Augenrollen der Einheimischen. (Georges Desrues, Rondo, DER STANDARD, 11.1.2013)