Жерар Депардьё wechselt ins "andere Lager" und zeigt den Moralisten in der Heimat die (sprichwörtlich) lange Nase.

foto: mikhail klimenyev

Im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag steht Gérard Depardieus Name bereits auch in russisch-kyrillischen Buchstaben geschrieben - Жерар Депардьё. Kein Wunder, schließlich ist Depardieu ab sofort Neo-Russe. Reich ist er auch. Allerdings kein neureicher Russe mit schwindliger erdöllastiger Finanzarchitektur, sondern ein hochtalentierter und geschäftstüchtiger Künstler, der Menschen rund um den Globus unvergessliche Filmstunden beschert hat.

Leisten, leisten, leisten

Depardieu hat sich ein neues Land ausgesucht, und dieses nimmt ihn mit offenen Armen auf. Eigentlich eine Win-Win-Situation, ein gelungener Fall von Migration, wobei der langwierige Weg der "Integration" (Sprache lernen, Kontakte zur einheimischen Bevölkerung knüpfen, leisten leisten leisten) schlicht und ergreifend wegfällt. Der Supermigrant Depardieu ist stolz auf seinen neuen Pass, der Präsident des Aufnahmelandes ist stolz auf seinen neuen Untertan (pardon, Bürger), Frankreich ist einen scharfen, unbeugsamen Systemkritiker los. „I wolki syty, i owzy zelye", besagt ein russisches Sprichwort: „Die Wölfe sind satt, und die Schäfchen vollzählig", also alle Beteiligten zufriedengestellt, ohne dass eine Partei Schaden nimmt.

Was zeigt die medial genüsslich ausgeschlachtete selbstgewählte Russifizierung Depardieus? - Erstens, dass ein Pass nichts anderes ist als ein Heftchen, das nach Belieben und nach politischer Willkür ausgestellt beziehungsweise vorenthalten wird. Zwar nichts Neues, und doch ist es immer wieder amüsant zu beobachten, wie nach den mühseligen Niederungen der Integrationsdebatten plötzlich die Scheinwerfer angehen, und ein Pass über den Ladentisch wandert, schneller als man „voilà!" sagen kann.

Pass nur für erwünschte Migranten

Depardieu ist durch sein exzentrisches Auftreten ein bunter Hund, scheinbar ein Einzelfall, aber in Wahrheit ist sein Fall so untypisch nicht: Mit ausdrücklich erwünschten Migranten schmücken sich selbst jene Politiker gern, die ansonsten eine restriktive Einwanderungspolitik fordern. Das ist überall in der Welt so. Der turkmenische Gastarbeiter, der seit Jahren versucht, sich in Moskau sein Plätzchen unter der Sonne zu erschuften, mag dieser Tage genauso fassungslos-anerkennend die russische Passverleihungszeremonie mitverfolgt haben, wie so manch ein bürokratiegeplagter Migrant in Österreich, als Depardieus nunmehr ehemaliger Landsfrau Anna Netrebko ohne viel bürokratischen Aufhebens die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde.

Jedem sei die Staatsbürgerschaft, die er am meisten begehrt, vom ganzen Herzen gegönnt - dem turkmenischen Gastarbeiter aber eben auch.

Die Posse rund um den Russen Depardieu zeigt aber eine weitere, hochinteressante Symbolik auf: Das Lagerdenken. Die überwunden geglaubte Systemkonkurrenz aus den Zeiten des Kalten Krieges taucht immer wieder aus der Versenkung auf, vital und up-to-date. Nota bene, mit geradezu umgekehrten Vorzeichen. Wo früher Arbeiter und Bauern das Paradies auf Erden vorfinden sollten, da lockt heute eine flat-tax-Regelung ausgerechnet Multimillionäre an.

Vom Arbeiter- zum Millionärsparadies

Depardieu hätte vermutlich jede Staatsbürgerschaft der Welt haben können. Im westeuropäischen Kontext besitzt jedoch kaum eine andere so viel Symbolkraft wie die russische. Aus freien Stücken Russe zu werden bedeutet in diesem Fall, zu „den Anderen überzulaufen", den Moralisten daheim die sprichwörtliche lange Nase zu zeigen, ins andere Lager zu wechseln. Trotz anderslautender Rhetorik bei diversen Gipfeltreffen und gemeinsamen Pressekonferenzen sind sich Russland und Westeuropa („Rossija i Jewropa") nach 1989 weitgehend fremd geblieben: „Jewropa" („Europa") steht im russischen Sprachgebrauch nämlich nicht so sehr für den Kontinent Europa, sondern landläufig für Westeuropa, wodurch implizit suggeriert wird, dass Russland gar nicht Teil Europas ist. Der Fall Depardieu zeigt, dass beide Seiten nicht abgeneigt sind, sich als latent antagonistische Lager zu inszenieren.

Depardieu wird sich in seinem neuen Heimatland vermutlich gut einleben, schließlich ist er von höchster Stelle willkommen. Stressig könnte es allenfalls werden, wenn Putin beschließt, mit seinem neuen Vorzeigemigranten durch die Schulen zu touren, um den Schülern Russlands zu zeigen, was ein guter Russe alles draufhaben muss. (Mascha Dabić, daStandard.at, 8.1.2013)