Das "Wochenende im Süden" erschien zur Überraschung seiner Redakteure zensuriert.

Foto: Johnny Erling

Leitartikler Dai Zhiyong traute seinen Augen nicht, als er die in Kanton erscheinende und landesweit vertriebene Wochenausgabe von Chinas Reformzeitschrift "Nanfang Zhoumo" (Wochenende im Süden) in die Hände bekam. Er erkannte seinen für die Neujahrsausgabe geschriebenen Kommentar nicht mehr wieder. Die Sondernummer war dem Leitthema "Chinas Traum" gewidmet. So heißt die von Parteichef Xi Jinping ausgegebene neue politische Losung, die Volksrepublik wieder als große Nation auferstehen zu lassen.

"Der Traum Chinas ist der Traum von einer konstitutionellen Politik", so hatte Dai sein mutiges Plädoyer überschrieben. China müsse aber erst einmal seine Hausaufgaben machen. Es müsse die in der Verfassung festgeschriebenen, aber noch nicht verwirklichten Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte umsetzen. Der von der Redaktion in Selbstzensur bereits abgeschwächte Text fand dennoch keine Zustimmung bei der Propagandaabteilung der Provinz. Sie ließ die Sondernummer in letzter Minute umschreiben. Aus dem kritischen Kommentar wurde ein patriotisches Jubelbekenntnis unter dem Titel: "Wir waren noch nie in unserer Geschichte so nah dran, unseren Traum erfüllen zu können."

Entsetzte Redaktion

Die Empörung bei den Redakteuren und im Internet ist besonders groß, weil die Zensur heimlich geschah. "Verantwortliche Personen" (gemeint ist der Provinz-Propagandachef Tuo Zhen) hätten die Ausgabe am "2. Jänner überarbeiten, ändern und Inhalte streichen lassen". Journalisten seien nicht informiert worden. So steht es in einer Online-Stellungsnahme der wütenden Redakteure. Sie verlangten nach eingehender Untersuchung. Noch während sie online mit ihren Lesern diskutierten, erhielten sie die Weisung der Behörde, alle Debatten einzustellen. Diese Woche traten die Journalisten in Streik - unerhört in China.

Im zensierten Leitkommentar waren nicht nur alle Bezüge zum freiheitlichen Denken und Handeln gestrichen, sondern liebedienerisch auch die Worte des neuen Vorsitzenden Xi Jinping eingefügt worden: "Chinas größter Traum ist sein nationales Wiedererwachen.. Die Aufmachung der Titelseite wurde verändert und unter das Motto gestellt: "Strebt danach, den Traum zu verwirklichen." Zudem wurde ein Geleitwort von Funktionären gedruckt, das voller sachlicher Fehler ist.

Offene Solidarität

Nicht nur im Internet rumorte es aufgrund der dreisten Parteizensur. Offen solidarisierten sich auch Medienforscher der Universitäten wie das gesamte Nankinger Institut Chuanmei Xueyuan mit der Redaktion. "Wir sind gegen solch rückwärtsgerichteten Aktionen. Wir fordern eine Erklärung für die Öffentlichkeit und eine Entschuldigung der Kantoner Behörden." Schanghais Kabelsender Oriental TV meldete trotz Berichtsverbot den Eingriff. Selbst die parteitreue "Global Times" zeigte sich über den "Vorfall befremdet. Solch offene Konfrontation ist selten." Die obrigkeitstreue Zeitung warb allerdings um Verständnis für die Zensur. In China gebe es ein anderes politisches System als im Westen. "Unsere Zeitungen können sich nicht einfach abkoppeln."

Richtig daran ist, dass die "Nanfang Zhoumo" wie alle Zeitungen Chinas der Kontrolle der Propagandaämter der Partei unterstehen. Sie blieb dennoch eine der mutigen Stimmen Chinas, auch wenn sie immer wieder zensiert und ihre Chefredakteure disziplinarisch bestraft oder abgesetzt wurden. Die Vorabzensur, heimlich an der Redaktion vorbei, hat allerdings eine neue Qualität. 51 ehemalige Mitarbeiter, die in den vergangenen 20 Jahren für die Zeitung arbeiteten, unterzeichneten gemeinsam einen Protestbrief: Sie attackieren den seit vergangenen Mai amtierenden Propagandachef in Guangdong, Tuo Zhen, für den "grobschlächtigen" Eingriff. "Im Internet fragen sich alle, ob der von der neuen kollektiven Parteiführung in Peking vermittelte Eindruck, aufgeklärt und offen sein zu wollen, echt ist oder nicht."

Vor wenigen Tagen, am 1. Jänner, hatte das Parteiorgan "Renmin Ribao" (Volkszeitung) noch solche Hoffnungen geweckt. Die Zeitung versprach in ihrem Neujahrskommentar, offener zu werden und keine Phrasen mehr zu dreschen. Genauso lauten auch die wiederholten Versprechungen der neuen KP-Führung unter Parteichef Xi Jinping. Die Realität sieht anders aus. Zum Jahresende wurden die Internetregeln durch den Volkskongress verschärft. Internetbetreiber und Portale sind aufgefordert, Zensur auszuüben. Blogger werden gezwungen, sich unter Klarnamen zu identifizieren. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 8.1.2013)