Minister und Abgeordnete machen bekanntlich nicht nur zu Wahlzeiten Betriebsbesuche. Eröffnen Kindergärten und Altenheime. Da sind viele recht fleißig, weil man in Reden dann die Stimme des Volkes zitieren kann. Und weil ja einiges an Bildmaterial für das lokale Fernsehen und die Bezirksblätter abfällt. Immer schön lächeln, immer vergnügt.

Weniger vergnügt würden beispielsweise unangekündigte Fahrten in der Wiener U6 ausfallen, einem der Notstandsgebiete in der Wiener Stadtlandschaft. Von der Gumpendorferstraße bis zum AKH fahren oder in Alt-Erlaa in einen leeren Waggon einsteigen. Oder mehrmals die Woche am Margarethengürtel in die Straßenbahnen Nummer 6 und 18 einsteigen, mehrere Stationen fahren und dann mit den Leuten reden.

Da dürften natürlich keine Sekretäre, Kameraleute und Jungjournalisten dabei sein. Es sollte ein richtiger Reality-Check für Hochverdiener in den Problemzonen des Wiener Verkehrsnetzes sein. Manchmal sieht man ja einen versprengten Gemeinderat in der U3 oder einen Nationalratsabgeordneten der Grünen im Dickicht des Westbahnhofs oder von Wien Mitte.

Die Grazer Kommunisten haben schon vor vielen Jahren die Erfahrungen mit dem wirklichen Leben in die Politik eingebracht. Sie haben aber bei ihrem Einstieg in Gemeinderat und Landtag weder die Kleidung gewechselt noch das Verkehrsmittel - noch den Lebensstandard. Das Höhersteigen ist ihnen nicht in den Kopf gestiegen, diesen Linkslinken, für die der Hund des Meinungsphilosophen Peter Ulram nur Kot übrig hat.

Im deutschen Fernsehkanal Vox gibt es eine Sendung, die der Politik zum Vorbild (in der Kommunal- und Landespolitik) dienen könnte. Eine Autohändlerin, Ex-Griechin wie Maria Vassilakou, pickt sich dort eine Vielkinderfamilie oder eine Alleinerzieherin ohne Bahnanschluss heraus und erhandelt für sie neue (gebrauchte) Autos, indem sie tauscht und schwatzt, flirtet und Deals fixiert.

Das ist Engagement statt leerer Versprechungen. Die Theorie mit der Praxis in Einklang bringen, so gut es geht. Elke Kahr von der Grazer KPÖ ist so eine Politikerin, der das gelingt.

Die Reality-Checks könnten durch Foren ergänzt werden, deren Zusammensetzung zwar den Erfordernissen der Demoskopie entspricht, wo Politiker und Politikerinnen aber für mehrere Stunden den Fragen und Einwänden "normaler" Bürger ausgesetzt wären.

Um ernst genommen zu werden, müssten Minister und Mandatare dabei eine Sprache finden, deren Versatzstücke auf die für das Fernsehen oder die Titelgebung der Boulevardmedien abgestimmten Leerformeln und Gefühlsklischees verzichten.

Die Nomenklatur würde wieder sprechen lernen.

Damit könnte man den Einfluss der sogenannten Spindoktoren reduzieren und die Wirkungen jener Wirtschaftskreise kontrollieren, die den Markt für den Heiligen Geist halten. Denn der Neoliberalismus ist seit den 80er-Jahren wie früher einmal der Marxismus zur Ersatzreligion geworden. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 7.1.2013)