Nurre Wolfaro trägt die Tracht der Oromo. Gegen vermeintliche Traditionen, die Frauen schaden, lehnt sie sich jedoch auf.

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2006 gründete sie daher im 1500-Einwohner-Ort Anno, rund 260 Kilometer südlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, eine Frauenorganisation. An diesem Tag schleppen die Frauen Steinbrocken, um die Mauern ihres neuen Büros zu befestigen.

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Die Arssi-Region in 2750 Meter Höhe ist sehr grün und fruchtbar. Dennoch ist die Armut sehr hoch.

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Junge Mädchen müssen oft früh in der Landwirtschaft mithelfen und können nicht zur Schule gehen.

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Junge Mädchen werden oft Opfer von Entführung und Vergewaltigung. Danach folgt in vielen Fällen die Zwangsheirat mit dem Täter.

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In dem neuen Haus der Frauenorganisation soll auch dieses Problem besprochen werden.

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Viele Probleme sei den Frauen gar nicht bewusst, meint Wolfaro, da die Situation schon immer so gewesen sei.

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Daher seien die Versammlungen der Frauenorganisation, die mittlerweile 901 Mitglieder hat, auch so wichtig.

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Nurre Wolfaro stemmt zügig einen etwa zehn Kilo schweren Steinbrocken über ihren Kopf und lächelt. Die kleinen, bunten Plastikperlen auf ihrer traditionellen Tracht der Oromo knistern bei jeder Bewegung. Jeder dritte Äthiopier ist Oromo, also rund 25,5 Millionen Menschen. Heute bekommt das Versammlungshaus ihrer Frauenorganisation in dem 1500-Einwohner-Dorf Anno, rund 260 Kilometer südlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, endlich eine Steinmauer. Das gibt den Frauen Kraft bei dem anstrengenden Schleppen der Steinbrocken. "Unsere Töchter sollen es einmal besser haben als wir. Wir wurden noch zwangsverheiratet", sagt Wolfaro.

2006 begründete die groß gewachsene 49-Jährige die Frauenorganisation in Anno, die von der österreichischen Dreikönigsaktion, Hilfswerk der katholischen Jungschar, unterstützt wird. Die ursprünglich sieben Mitglieder sind mittlerweile auf 901 angewachsen. Viele Frauen gehen stundenlang zu Fuß zu den wöchentlichen Versammlungen, wo auch tabuisierte Themen wie "family planning" (ein eigenes Wort für Verhütung gibt es nicht), Beschneidung oder Gewalt gegen Frauen besprochen wird. "Manchmal merken wir unsere Probleme allein gar nicht, es kommt uns alles normal vor, weil es schon immer so war", erklärt Wolfaro.

Im grünen Hochland auf 2750 Meter Höhe stehen die Rundhäuser mit Lehmmauern und Strohdächern weit auseinander. Die Menschen leben von ihrem Vieh und Landwirtschaft. Breite Gräben sollen in der Nacht die Hyänen fernhalten. Aber die saftigen Wiesen und die üppige Vegetation täuschen: Die Arssi-Region mit rund drei Millionen Einwohnern zählt zu den ärmsten Gebieten am Horn von Afrika. Statt Schulbesuch müssen die Kinder hier früh mitarbeiten. Arrangierte Ehen, Gewalt und Missbrauch sind bereits für junge Mädchen Alltag.

Auch Nurre Wolfaro wurde bereits mit 14 Jahren verheiratet. Aus der Ehe gingen neun Kinder hervor. Obwohl sie die Beziehung zu ihrem Mann als glücklich bezeichnet, waren die frühen Schwangerschaften traumatisch. An die Geburt der ersten fünf Kinder kann sich Wolfaro nach eigenen Angaben kaum erinnern: "Es ist wie ein Nebel."

60 Prozent der Äthiopierinnen werden sexuell missbraucht

In der äthiopischen Verfassung aus dem Jahr 1995 wurde zwar festgelegt, dass Frauen den Männern gleichgestellt sind und Entführung und Vergewaltigung verboten sind. Doch laut einem Bericht der BBC aus dem Jahr 2006 werden nahezu 60 Prozent aller Äthiopierinnen sexuell missbraucht. Im United Nations Population Fund (UNFPA) wurde im Jahr 2009 davon ausgegangen, dass Äthiopien eine der höchsten Raten häuslicher Gewalt gegen Frauen aufweist. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht explizit unter Strafe gestellt.

Nach Vergewaltigung folgt Zwangsheirat

Eine alltägliche Bedrohung für junge Frauen in der Gegend um Anno ist die Entführung, Vergewaltigung und Zwangsverheiratung mit dem Täter. Der Druck ist groß, das Schicksal zu akzeptieren: Als Gusumeti, übersetzt bedeutet das "keine Jungfrau", werden sie stigmatisiert und haben wenige Chancen einen anderen Ehemann zu finden.

"Abduction" nennen es die Dorfbewohnerinnen. Sie sprechen das Wort nur zögernd aus, als würde sie sich dadurch selbst mit einem Fluch belegen. Übersetzt bedeutet es "Entführung", ein Wort, das das Martyrium nur unzureichend beschreibt. Heirat durch Entführung ist verboten und wird mit einem Strafmaß von drei bis zehn Jahren belegt. Noch vor einigen Jahren konnten die Entführer und Vergewaltiger ihre Tat durch eine Heirat mit dem Opfer legalisieren.

Die Täter werden oft gedeckt

Von diesem Schicksal berichtet Genet F. Die zarte Vierzehnjährige mit dem noch sehr kindlichen Gesicht möchte nicht schweigen. Vor sieben Monaten, als sie noch 13 Jahre alt war, wurde sie von ihren Eltern zum Wasser holen geschickt. Als sie nach Hause gehen wollte, war es bereits dunkel. Am Heimweg wurde sie von mehr als 30 Männern überfallen. "Sie schlugen mich wie einen Esel", sagt F. Sie wurde auf einen Pferdekarren geworfen und verschleppt.

Sie wehrte sich und schrie um Hilfe. Erst um ein Uhr Nachts kamen sie zum Haus des Anführers. In dem Haus wurde sie weiter geschlagen und mehrmals von verschiedenen Männern vergewaltigt. Genet F. erzählt ihre Geschichte mit leiser Stimme und fest ineinander verschraubten Fingern. Aber sie erzählt flüssig und schnell. Sie macht nur kurze Pause um sicher zu gehen, dass jedes Detail verstanden und mitgeschrieben wird.

Nach und nach realisierte sie während ihrer dreimonatigen Gefangenschaft, dass einige Mittäter ehemalige Nachbarn waren. Durch Einschmeichelung bei ihrem Peiniger bekam sie schließlich die Erlaubnis am Markt Besorgungen zu machen. Dort vertraute sie sich Menschen an und konnte entkommen.

Ärzte schützten Täter

Nach der Flucht ging Genet F. gemeinsam mit ihrer Schwester zu Polizei. Die Polizei verlangte nach drei Zeugen, um den Vorwürfen nachzugehen, die das Mädchen nicht bereit stellen konnte. Eine übliche Praxis.

Auch im Krankenhaus wurden die Täter gedeckt. Genet F. war schwanger, aber die Ärzte datierten die Schwangerschaft vor. Dadurch wurde ihr unterstellt, bereits vor der Entführung sexuelle Kontakte gehabt zu haben und die Täter geschützt. Nach einer verpfuschten Abtreibung war die junge Frau wochenlang bettlägrig.

Dabei hatte Genet F. noch ein wenig Glück. Die Organisation HEfDA (Harmee Education for Development Association) stellte Geld bereit, damit wenigstens die medizinische Nachversorgung abgedeckt wurde. Seit kurzem besucht sie mit Hilfe dieses lokalen Hilfsprogramms wieder die Schule. Auch hier kommt finanzielle Unterstützung von der Dreikönigsaktion.

Das ist eine wichtige Hilfe für die Minderjährige, auch in den kommenden Jahren. Denn in ihr Elternhaus wird Genet F. nie zurückkehren können. Wie sich herausstellte, hatten ihre Eltern gegen Geld in die Entführung eingewilligt. (Julia Schilly, derStandard.at, 4.1.2013)