Die Besteuerung der Höchstverdiener war von den USA bis Österreich eines der meist umstrittenen Themen des Jahres. Das wird so bleiben, weil die Schere zwischen Reich und Arm trotz (manche sagen, wegen) der Wirtschaftskrise immer weiter aufgeht. Reichensteuern führen zweifellos zu mehr Abgaben-Gerechtigkeit, die Ursachen des scharfen Gefälles der Einkommen werden so nicht behoben.

In seinem jüngsten Buch Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes schreibt der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel, die Entfesselung der Märkte habe zu einer "Marktgesellschaft" geführt, in der sich die dominanten Kräfte jeglicher sozialer Rücksicht und jeglichen Bewusstseins für Verantwortung entledigt hätten.

Sandel illustriert seine Thesen mit zahlreichen Beispielen. Besonders eindrücklich:

In Kalifornien kann die Benützung eigener Autobahn-Spuren für Fahrgemeinschaften von Alleinfahrern gekauft werden. Die Auswirkung: Reichtum setzt Sparwillen und Solidarität außer Kraft.

Für eine jährliche Gebühr zwischen 15.000 und 25.000 Dollar sind US-Ärzte bereit, sich von begüterten Patienten "buchen" zu lassen. Die Folgen: Ärztemangel in manchen Gegenden und Benachteiligungen für die weniger reichen Schichten.

35 Milliarden Dollar schwer ist das Geschäft mit Lebensversicherungen Schwerkranker. Man erwirbt solche Polizzen, zahlt die laufenden Prämien und kassiert nach dem Tod der ursprünglichen Inhaber Millionensummen. Die Auswirkung: Das Aushebeln jeglicher moralischer Wertvorstellung durch kapitalistische Entgrenzung.

Folgerichtig schreibt Sandel, dass nicht Gier allein das Schlamassel der Finanzkrise verursacht habe, sondern die Ausdehnung der Gesetze und Möglichkeiten der Märkte in Bereiche, wo sie nichts zu suchen haben. Wo, wäre hinzuzufügen, die von Konservativen und Marktliberalen gleichermaßen beschworenen Schutzzonen einer traditionell verfassten Gesellschaft liegen: In den Familien, bei den Kranken und Alten, den Schulen.

Der österreichische Marktliberale Christian Ortner verheddert sich in seinem vehement geschriebenen Büchlein "Prolokraten. Demokratisch in die Pleite" exakt in den Widersprüchen, die der Marktliberalismus auch in Österreich seit Schüssel/Haider vertieft hat.

Seine jugendlichen "Helden" Jessica und Kevin "nähren" sich von, wie Ortner es nennt, Krawall-Fernsehen und Trash-Boulevard. Sie seien zu einer Konsum-Masse herangewachsen, an der sich Politiker (vor allem deren Berater) orientierten.

Das ist richtig beobachtet und vielfach von anderen Journalisten ebenfalls beschrieben worden. Ortner verschweigt jedoch, dass genau diese Situation durch die Aufwertung der Märkte zu Quasi-Gottheiten der Gesellschaftspolitik entstanden ist.

Die Vernichtung von Werten, auch jener der Demokratie, ist in vollem Gange. Kevin und Jessica sind nicht von Haus aus dumm, sie werden dumm gehalten - um als funktionierende Konsumenten "richtig" zu wählen. (DER STANDARD, 31.12.2012)