Mit seinem Spruch vom Freitag bewies das ungarische Verfassungsgericht erneut, dass es bereit ist, demokratiepolitisch fragwürdige Maßnahmen der rechtskonservativen Regierung unter Premier Viktor Orbán genau unter die Lupe zu nehmen. Die Streichung der obligatorischen Wählerregistrierung aus den Verfassungszusätzen ebnet den Weg zur Annullierung der entsprechenden Wahlrechtsnovelle vom Vormonat, möglicherweise gleich zu Beginn des neuen Jahres. Auch in der Vergangenheit zogen Ungarns Höchstrichter schon die Notbremse: Ende vorigen Jahres erklärten sie einige Bestimmungen des als repressiv kritisierten Mediengesetzes für verfassungswidrig. Heuer hoben sie ein Gesetz auf, das die Pensionierung aller älteren Richter vorsah. Das höchste Pensionsalter ungarischer Richter lag nahezu eineinhalb Jahrhunderte lang bei 70 Jahren, bis die Regierung Orbán dies änderte.

Doch Orbán lässt sich diesmal offenbar durch das Urteil der höchsten Hüter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht so leicht abbringen. Die obligatorische Wählerregistrierung ist ihm ein zentrales Anliegen. Sie soll nämlich seine Macht trotz Popularitätsverlusts auch nach den nächsten Parlamentswahlen 2014 absichern - bildungsferne Schichten könnten von den Urnen ferngehalten und die eigenen Anhänger mit der perfekt geölten Wahlkampfmaschinerie der Fidesz-Partei mobilisiert werden. Gleich nach dem Verfassungsrichter-Spruch schickte Orbán seine Schildträger, den Fidesz-Fraktionschef Antal Rogán und den Europa-Abgeordneten József Szájer, vor: Man werde nun einfach die Registrierungspflicht aus den Verfassungszusätzen nehmen und in den Text-Corpus der Verfassung selbst heben, ließ dieser wissen: "Es gibt keinen Konflikt mit dem Verfassungsgericht."

Tatsächlich sitzt Orbán mit seiner Zweidrittelmehrheit am längeren Ast. In das Grundgesetz kann er hineinschreiben lassen, was er will. Aus " ästhetischen" Gründen ließ er die Wählerregistrierung bisher nur in den Zusätzen, das heißt den Übergangsbestimmungen, verankern. Damit konnten ihm die Verfassungsrichter formal die rote Karte zeigen - Substanzielles gehört nicht ins Provisorische. Doch Orbán braucht nur ein weiteres Mal abstimmen zu lassen, seine Parlamentarier werden ihm folgen. Überspitzt gesagt: Theoretisch könnte er Ungarn auch zum Königreich mit Erbdynastie ummodeln. Es gibt allerdings überhaupt keine Anzeichen, dass ihm derlei vorschwebt. (Gregor Mayer, DER STANDARD, 29./30.12.2012)