Mansura Eseddin am Ufer des Nil.

Foto: Privat

Die Schriftstellerin Mansura Eseddin, 36, gehört zu den wenigen weiblichen Stimmen der Revolution gegen das Regime von Hosni Mubarak. 2010 wurde sie unter die 39 besten jungen arabischen Autoren gewählt, im selben Jahr war sie als einzige Frau für den International Prize for Arabic Fiction nominiert. Obwohl sie wie viele andere ägyptische Intellektuelle vor kaum zwei Jahren mit Enthusiasmus auf dem Kairoer Tahrir-Platz demonstriert hat, ist sie von der heutigen Lage im Land enttäuscht. Warum die Revolution nun doch noch zu scheitern droht, erklärt sie im derStandard.at-E-Mail-Interview.

 

derStandard.at: Die Ägypter haben die neue Verfassung per Votum mehrheitlich gebilligt. Ist die Revolution in Ihren Augen nun gescheitert oder vollendet?

Mansura Eseddin: Ich fürchte, Ägypten ist auf dem besten Weg zu einem Gottesstaat. Die Revolution ist in einer schwierigen Phase, weil all die Gründe, welche die Ägypter zum Aufstand geführt haben, noch immer existieren: Ungerechtigkeit, Korruption, die schlechte Menschenrechtslage. Der Unterschied ist aber, dass sich jetzt wesentlich mehr Menschen politisch engagieren und ihre Rechte einfordern. Das beweisen die großen Demonstrationen der vergangenen Wochen. Diese Menschen, die auf die Straße gehen, sie sind die wahre Opposition. Die Politiker, die sich "Opposition" nennen, sind die Achillesferse der Revolution. Die Demonstranten auf den Straßen sind ihnen immer voraus.

derStandard.at: Warum hat das "Ja"-Lager gewonnen?

Eseddin: Präsident Mohammed Mursi und die Muslimbrüder konnten ihre Anhänger erfolgreich davon überzeugen, dass ein "Ja" zur Verfassung dem Land Stabilität bringt. Die Polarisierung des Landes und die schlimme wirtschaftliche Situation werden dies aber verhindern. Das Problem für die Muslimbruderschaft sind nicht nur die "Nein"-Stimmen, sondern vor allem die vielen Befürworter der Verfassung, die sich von Mursi jetzt konkret eine Stabilisierung Ägyptens erwarten.

derStandard.at: Im Februar 2011 gehörten Sie zu den vielen Künstlern und Intellektuellen, die auf dem Kairoer Tahrir-Platz den Sturz Mubaraks gefeiert haben. Ist Ihnen noch zum Feiern zumute?

Eseddin: Ich habe schon damit gerechnet, dass es ein langer und kurvenreicher Weg bis zur Erfüllung der revolutionären Ziele werden würde. Jetzt aber weiß ich, dass ich damals zu optimistisch war. Die Allianz zwischen der Muslimbruderschaft und den Dschihadisten ist eine sehr gefährliche Bedrohung für mein Land und mein Volk. Die demokratische Opposition muss deshalb endlich ihre Reihen schließen und hart dafür arbeiten, die Hauptziele der Revolution zu retten: Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit.

derStandard.at: Wie hat sich die Situation im Land, was das Recht auf freie Meinungsäußerung betrifft, seit dem Sturz Mubaraks gewandelt?

Eseddin: Die Situation ist zwar heute besser als unter Mubarak, dafür gibt es jetzt neue Tabus. Direkt nach seinem Rücktritt  hat sich eine großartige Lücke für unabhängige Medien in Ägypten aufgetan. Bei den staatlichen Sendern und Zeitungen hingegen haben Chefredakteure zunehmend die Rolle interner Zensoren übernommen. Erst hatten viele Journalisten Angst vor der Militärjunta, heute sind es die Muslimbrüder, die über ihre Anhänger in den Chefredaktionen Druck ausüben. Viele Journalisten sind seither zu unabhängigen Zeitungen gewechselt, wo sie sich frei ausdrücken können. In der Zeitung, wo ich früher gearbeitet habe, ist es uns gelungen einen Chefredakteur zu stürzen, der dem alten Mubarak-Regime anhing.

derStandard.at: Haben Sie als junge Autorin einen Wandel verspürt, seit die Muslimbruderschaft in Ägypten regiert?

Eseddin: Sicher! Staatliche Zeitungen drucken die Texte vieler etablierter Journalisten und Schriftstellern nicht mehr ab und es gibt meiner Meinung nach berechtigte Zweifel an der Haltung der Islamisten gegenüber der Freiheit der Rede und der Kunst.

derStandard.at: Ägypten scheint aber auch geographisch enorm gespalten zu sein. Wie denken Sie über die starke Stadt-Land-Polarisierung in Ihrem Land?

Eseddin: Das Land wurde in Ägypten jahrzehntelang vernachlässigt, das alte Regime hat sich praktisch nur auf Kairo und Alexandria konzentriert. Vor allem in Oberägypten gibt es nach wie vor viele Analphabeten. Dieses Problem ist so wie viele andere ein Erbe Mubaraks. Viel gefährlicher sind heute aber die politischen Gegensätze. Mursi nennt die Islamisten, die ihn unterstützen, "die guten Ägypter", die Demonstranten nennt er Verräter, Konterrevolutionäre. Die Spaltung ist die bittere Frucht von Morsis Entscheidungen. 

derStandard.at: Oft wurden die ägyptischen Muslimbrüder mit der türkischen AK Parti verglichen, der gemäßigt islamistischen Regierungspartei.

Eseddin: Diese Meinung teile ich überhaupt nicht. Die Muslimbruderschaft teilt die Ägypter in gute Muslime und Atheisten. Jeder, der Mursis diktatorische Tendenzen kritisiert, wird als Konterrevolutionär und Feind des Islam dargestellt. Sie versucht die Leute davon zu überzeugen, sie spräche im Namen Gottes und kämpfe einen heiligen Krieg zum Schutze des Islam. Kurz gesagt: die Muslimbruderschaft ist ein Staat im Staat. 

derStandard.at: Hat die Revolution den Armen bislang etwas gebracht?

Eseddin: Nein, gar nichts. Die Armen werden ärmer und niemand von den politischen Akteuren nimmt sich ihres Leidens an. Mursi konzentriert sich voll auf die Sicherung seiner Macht, die demokratische Opposition kämpft für Menschenrechte, hat aber kaum wirtschaftliche Konzepte. Die eigentliche Revolution kommt erst. Sie wird von Ägyptens Armen ausgehen und es ist zu befürchten, dass sie weniger friedlich sein wird als die vergangene Revolution. (flon/derStandard.at, 27.12.2012)