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An den italienischen Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS) fand das Opera-Experiment statt, das beinahe Einsteins spezielle Relativitätstheorie widerlegt hätte: Ein Neutrino war schneller als Licht. Ein Fehler, wie sich später herausstellte.

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Am Anfang freute man sich auf die Geister. An einem Montag im September 2006 weihten die Physiker ihr Experiment ein, in einer Halle unter den italienischen Abruzzen. Neutrinos sollte der 1250 Tonnen schwere Detektor nachweisen, die flüchtigsten unter den Elementarteilchen. Ein Teilchenbeschleuniger am Genfer Kernforschungszentrum Cern schickte sie 730 Kilometer durch die Erde, direkt in das Labor unter dem Gran Sasso d' Italia. Mit den Geisterteilchen wollten die Physiker letzte Zweifel an einer lange etablierten Theorie ausräumen. Stattdessen drohten sie zwischenzeitlich ein Heiligtum der Physik vom Podest zu stoßen.

Fünf Jahre und zwölf Tage nach der Einweihung standen die Physiker des Opera-Experiments plötzlich im Rampenlicht. Das Cern hatte ein Sonderseminar einberufen, auf dem der wissenschaftliche Leiter des Experiments die Daten einer Geschwindigkeitsmessung präsentierte. Demnach reisten Neutrinos vom Cern zu schnell zum Gran Sasso. 60 Nanosekunden eher kamen sie dort an, als ein Lichtstrahl, der die gleiche Strecke zurücklegt. Die Frage ließ Physiker fünf Monate lang nicht los: Kann etwas schneller als das Licht reisen, obwohl Albert Einsteins Spezielle Relativitätstheorie das verbietet?

Auf dem Höhepunkt des Mediengetöses ging unter, dass es bei Opera eigentlich gar nicht um die Lichtgeschwindigkeit ging. "Wir wollen zeigen, dass sich Muon-Neutrinos in Tau-Neutrinos umwandeln", sagt Giovanni De Lellis. Hinter dem Sprecher der Opera-Kollaboration ruht der Detektor, zehn Meter hoch und zwanzig Meter breit. Er steht im Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS). Zwei Autostunden von Rom entfernt, ist das Untergrundlabor der italienische Gegenentwurf zum Schweizer Kernforschungszentrum Cern. Hinter einem mächtigen Stahltor arbeiten 900 Forscher an 15 Experimenten.

Neutrinos wie Chamäleons

Dem Besucher malt De Lellis Bilder ins Notizbuch, mit denen er erklärt, welche Rolle das 120 Millionen Euro teure Opera-Experiment im Untergrundensemble spielt. Physiker unterscheiden Elektron-, Muon- und Tau-Neutrinos. Wie Chamäleons können sich diese drei Generationen der Neutrinos im Flug ineinander umwandeln. Die Theorie der " Neutrino-Oszillationen" war anno 2006 bereits von mehreren Experimenten bestätigt worden. Nur ein letztes Puzzlestück musste noch an seinen Platz gesetzt werden: Dass aus Muon-Neutrinos auch tatsächlich Tau-Neutrinos werden, hatte noch kein Experiment direkt beobachtet.

Es ist eine Messung, die eine verdienstvolle Fußnote in der Physikgeschichte wert ist. Als Opera geplant wurde, dürfte sich mancher mehr von dem Koloss erhofft haben. Mitte der 1990er-Jahre galten Neutrinos als Boten einer nahenden Physikrevolution. "Vor 20 Jahren dachten wir, Neutrinos könnten der Hauptbestandteil der Dunklen Materie sein", sagt Giovanni de Lellis. Die Dunkle Materie ist bis heute eines der großen Rätsel der Physik. Mittlerweile weiß man aber, dass Neutrinos höchstens einen kleinen Teil ihres Gewichts ausmachen. Und für einen prominenteren Beitrag zur Theorie der Neutrino-Oszillationen kam Opera zu spät. Erst wurde lange um die Gelder gerungen, dann verzögerte ein Unfall bei einem Nachbarexperiment am Gran Sasso den Aufbau.

Opera war gerade vier Jahre alt geworden, als Ende 2010 die Ergebnisse einer Routinemessung den wissenschaftlichen Alltag durcheinander rüttelte. Die Zeitmessung war "fast weniger als ein Nebenaspekt", erinnert sich Caren Hagner, die eine Gruppe am Forschungszentrum Desy bei Hamburg leitet und Mitglied der Opera-Kollaboration ist. Aber man konnte die Flugzeit wesentlich genauer messen als frühere Experimente, da die Atomuhren des Experiments von Spezialisten des Schweizer Meteorologie Instituts und der deutschen Physikalisch-Technischen Bundesanstalt geeicht worden waren.

Zunächst dachten die Wissenschafter, die zu kurze Flugdauer der Neutrinos würde bei genauerer Überprüfung wieder verschwinden. Im Frühjahr 2011 wurde eine Taskforce gebildet, die nach Fehlerquellen suchte. Erst als diese nichts fand, der Effekt immer deutlicher wurde und Blogger Wind von der Sache bekamen, ging man an die Öffentlichkeit. Das Medienecho überraschte die Forscher. In manchen Medienberichten klang es so, als müsste Einstein um sein wissenschaftliches Erbe fürchten.

Derweil suchte die Kollaboration mit Hochdruck nach einer Fehlerquelle. Gut zwei Monate nach dem Seminar am Cern gab es erste Hinweise auf ein Kabelproblem. Vorher war die Taskforce noch damit beschäftigt, andere Fehlerquellen auszuschließen. Den Steckern von Glasfaserkabeln sehe man kaum an, wenn sie nicht richtig sitzen, erläutert Caren Hagner. Im Februar dieses Jahres war man sich dann sicher.

Innerhalb der 170 Mitglieder starken Kollaboration eskalierte die Diskussion, denn die Kabelverbindungen hätte man vor der Bekanntmachung prüfen können. Der Sprecher des Experiments und der wissenschaftliche Leiter traten zurück. "Niemals haben ich oder einer meiner Kollegen von Opera von einer Entdeckung oder einem finalen Ergebnis geredet", schrieb der Sprecher in einem Statement.

Wogen glätten

Sein Nachfolger Giovanni de Lellis will nichts mehr zur Vergangenheit sagen. Er muss nun die Wogen innerhalb der Forschergemeinschaft glätten. " Wichtig ist, dass die Kollaboration stark genug war, sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe zu besinnen", sagt er. Zwei Tau-Neutrinos sind den Forschern bisher ins Netz gegangen. Gut die Hälfte der gesammelten Daten wartet noch darauf, ausgewertet zu werden.

Am 3. Dezember 2012 ist der Neutrino-Strahl vom Cern versiegt. Wenn er 2015 wiederkehrt, wird man den Opera-Detektor unter den Abruzzen längst zerlegt haben. Es wird die Erinnerung an ein Experiment bleiben, das gezeigt hat, wie wenig Einblick die Öffentlichkeit noch in die Arbeitsweise der Grundlagenphysik hat. Das aber vielleicht dazu beitragen konnte, das Auf und Ab der wissenschaftlichen Methode in die Welt zu tragen. (Robert Gast, DER STANDARD, 24.12.2012)